Nachtlande

Lesen, Wandern, Palavern

Doktor Tromm

Ich gehe jeden Tag spazieren. Das ist keine sportliche Höchstleistung, tut mir aber sehr gut. Besonders hilfreich – gerade dann, wenn es irgendwo an Körper oder Seele zwickt – ist ein Besuch bei Doktor Tromm. So nenne ich die Tromm, den bewaldeten Höhenzug hier, der das Weschnitztal vom Überwald (Transsylvanien!) abgrenzt.

Es gibt eine Sage darüber, warum die Tromm so heißt. Ich habe sie schon vor Jahren mal weitergesponnen und damals auf Facebook geteilt. Da mein Profil dort inaktiv ist, teile ich sie auch hier – siehe unten.

Meine Version der heilkräftigen Dr. Tromm hat es übrigens schon ein bisschen in den regionalen Sagenschatz geschafft. Zumindest wird dieser Aspekt in einem Beitrag auf der „Babbelbox“ auf der Tromm aufgegriffen. Ich habe leider keinen Link dazu finden können – aber wenn ihr euch andere Mundartbeiträge aus dem Odenwald reinziehen wollt, könnt ihr das tun, s.u.. Die Sprecher kenne ich weitgehend (und verstehe sie ;-)). Ich selbst spreche keinen Odenwälder Dialekt – ich bin Zugereiste 2. Generation.

https://www.gebabbel-suedhessen.de/wanderwege/weschnitztal/

Aber weiter zur Tromm…

***

Wisst ihr eigentlich, woher die Tromm ihren Namen hat?

Vor langer Zeit befand sich auf der Tromm ein großer, reicher Bauernhof. Er lag tief versteckt in den fast undurchdringlichen Wäldern. Dort lebte ein bärtiger alter Bauer mit seiner Frau. Nachdem ein wildes Ungetüm den Sohn des Paares getötet hatte, wurde die Frau verschlossen, heute würde man wohl sagen, depressiv. Und so dauerte es lange, bis sie wieder ein Kind bekam. Doch zum Weiterleben reichte ihre Kraft nicht mehr aus; sie starb im Kindbett.

Das Neugeborene aber war stark und kräftig. Seine blonden Haare, die es schon bei der Geburt hatte, strahlten hell. Und weil es so stark wirkte, beschloss der Vater, als ihm die Amme das Kind zum ersten Mal in die Arme legte, es Trommheide zu nennen, sagt doch der Odenwälder zu einem großen Ding „Trumm“ oder „Drumm“. (Und Heide bedeutete ursprünglich „wild wachsend“.)

Das Kind wuchs heran und unterstützte den schwermütigen Bauern. Als sie alt genug war, um zu heiraten, kamen immer wieder mutige Bauernjungen, um um ihre Hand anzuhalten. Es hatte sich herumgesprochen, dass Trommheide nicht nur schön war und stark, sondern auch den Hof klug zu führen wusste, also lauter Eigenschaften hatte, die man an einer Bäuerin schätzte. Und einen großen Hof würde sie auch einmal erben. Doch Trommheide hatte kein Interesse daran, zu heiraten.

Eines Tages, als Trommheide gerade ihren alten Vater zu Grabe getragen hatte, kam ein adliger Jüngling, der sie ebenfalls freien wollte. Doch sie lachte ihn nur aus, „Auch du willst nur meinen Leib und mein Gut und nicht meine Seele! Ich halte nichts von Mannesliebe“, erklärt sie. Der beleidigte Jüngling verfluchte sie daraufhin. Sie soll im Berg gefangen sein, wünschte er, so lange, bis ihre Tränen den Fels gesprengt haben. Nur ein Mal im Jahr dürfe sie im Frühling von Berg herab schauen und sich nach der Mannesliebe sehnen.

Ein Donnerschlag, und beide waren verschwunden. (Es heißt ja, ein Fluch kommt dreifach zum Fluchenden zurück, und so hat es wohl den Jüngling fairerweise auch getroffen.)

Und wenn im Frühling der Bergrücken hell aufleuchtete, sagten fortan die Menschen im Weschnitztal und Überwald: „Trommheide schaut wieder einmal ins Land und sehnt sich!“, denn sie glaubten, es sei ihr blondes Haar, das leuchte. Doch dann entsprangen die ersten Bäche aus den Felsen, und das Leuchten zur Pfingstzeit hörte auf.

(frei nacherzählt, Original in: Sagen, Märchen und Erzählungen aus dem Überwald, zusammengestellt von Hans-Günther Morr)

Ich möchte die Geschichte gerne weitererzählen. Denn die Trommheide lebt immer noch in den Felsen und Wäldern der Tromm, der sie ihren Namen gab. Doch als sie fertig war mit dem Sehnen und das Weinen erlernt hat, schaute sie sich über viele Jahre die kleinen Menschlein an, die in den Wäldern der Tromm unterwegs waren. Arme Köhler sah sie, hungrige Menschen, die nach Frucht, Pilz und Wurzel suchten, aber auch jene, denen es an materiellen Dingen nicht mangelte und die dennoch unglücklich und alleine durch die Wälder liefen. Und so sagte sich Trommheide, mich dauern die Menschen mit all ihren Sorgen, ich möchte ihnen helfen, denn ich weiß, wie meine Mutter an gebrochenem Herzen starb und wie auch mein Herz hart wurde wie der Trommstein. Leise wispert sie seitdem den Menschen gute Ratschläge zu, setzt neuen Mut in ihre Herzen und gibt ihnen Kraft, wenn sie nicht weiterwissen.

Und so kommt es, dass all jene, die mutlos oder voller Sorge oder mit Schmerz in der Seele oder einfach nur erschöpft in den Wäldern der Tromm spazieren gehen, dort auch Linderung erfahren können. Manche sagen heute scherzhaft „Ich geh zu Frau Doktor Tromm!“, wenn ihre Beine einen langen Marsch und ihr Geist frische Luft braucht.

Und weil manche Menschen die Sprache der Tromm verstehen, gibt es immer mehr Kreative, Künstler, Theaterleute, Aussteiger und Heiler, die beschließen, dort, auf und mit der Tromm, zu leben.

Der erste 1. Mai

Das einzige Bild vom 1. Mai 1990 zeigt, anders als ich es erinnerte, einen Hackenporsche, den wir offenbar auch dabei hatten, und nicht den berühmten Bollerwagen.

Immer um diese Zeit im Jahr erfasst mich eine große Welle der Nostalgie, und ich erinnere mich zurück an die vielen Male, in denen ich als Teenagerin oder Studentin mit Freunden losgezogen bin, um in den Mai zu wandern. Später haben wir gezeltet, in den Mai gefeiert, gezaubert, Lagerfeuer gemacht, gelacht, Bierfässer geleert und bis zum Morgengrauen geredet…

Und dann, noch ein paar Jahre später, das Rockkonzert im Dorf: die alten und jungen Cowfreaks, Metaller, die aussahen, als seien sie direkt aus dem Jahr 1985 in die 2010er gebeamt worden…

Und irgendwann waren wir alle erwachsen – oh je, sogar alt. Keiner wandert, keiner zeltet mehr. Das Rockkonzert ist brav geworden, familien- und honoratiorentauglich, aber laut. Das macht mit keinen rechten Spaß mehr.

Gestern habe ich einen der rumpeligen Kellerräume im Elternhaus ein bisschen aufgeräumt und den Bollerwagen wiederentdeckt, den wir beim „ersten 1. Mai“ dabei hatten. Das war 1990. Ich war 16 und gehörte zu einer kleinen Clique, die sich regelmäßig bei mir im Partykeller traf. (Meine Eltern waren weise. Sie hatten das Projekt Partykeller gefördert, als sie merkten, dass ich in meine Sturm-und-Drang-Phase kam. So, dachten sie zu Recht, würde ich mich öfter zuhause mit Freunden treffen, statt irgendwo herumzuhängen.)

Damals war ich fest überzeugt, im öden Odenwald jämmerlich zu versauern (Antonia Baum, I feel you! Jeder Odenwälder hier kennt ihre FAZ-Glosse „Dieses Stück Germany“ über die „Odenwaldhölle“, die meisten haben sich darüber erregt. Ich konnte ihren Text ganz gut nachvollziehen). Meine Clique bestand aus Leuten, denen es ähnlich ging wie mir – Punker und Metaller und Waver (oder was wir dafür hielten), Schwule, manche waren ein bisschen verrückt oder das, was man heute Nerds nennen würde. Viele Jahre später wurde mir klar, dass wir mehr erlebt haben als manche Großstadtkids – „wir hatten ja nix“, also mussten wir selbst für Abwechslung sorgen, und waren dabei ziemlich kreativ.

Zurück zum ersten 1. Mai. Wir – ich müsste durchzählen, es waren wohl so sechs Leute, vielleicht mehr – hatten beschlossen, in den Mai zu wandern. Wessen Idee es war? Wahrscheinlich die von C., der hatte oft gute Einfälle.

Wir packten den Bollerwagen mit Getränken, vielleicht auch etwas zum Knabbern. Eine Laterne war auch dabei. Dann zogen wir los, in den nächsten Ortsteil, zu einer Feier am Sportplatz. Viel erinnere ich davon nicht mehr. Wir zogen weiter, wollten zu einem kleinen See. Zwei ältere Hippies saßen dort und kifften. „Passt auf, der Tiger ist im Wald!“, sagten sie zu uns. Das wurde ein geflügelter Spruch bei uns. (Erst vor ein paar Jahren hörte ich, dass damals tatsächlich irgendwo im Odenwald eine Raubkatze ausgebrochen sein soll.)

Dass sahen wir ein Lagerfeuer am See. Wir zögerten zunächst – wir fürchteten, es könnten schlagkräftige Mitglieder einer berüchtigten Familie aus dem Nachbarort sein. Zwei von uns machten sich auf den Heimweg, der Rest blieb. Vorsichtshalber bildeten wir Alibi-Pärchen, damit die Mädchen unter uns nicht von fremden Männern dort angegraben wurden. Zu meiner Freude bekam ich C. ab – ich hatte mich mächtig in ihn verguckt, aber aus uns wurde nie ein echtes Paar.

Der Rest des Abends fällt unter „zum Glück gab es 1990 noch kein Social Media“ – wir tranken zu viel, irgendwann kam meine Mutter mitten in der Nacht mit dem Auto angefahren, aufgeschreckt durch die früher heimgekehrten Freunde, die behauptet hatten, wir seien in Gefahr. Das waren wir zwar nicht, aber das Taxi nach Hause war trotzdem willkommen.

Das klingt alles nicht sonderlich wild – aber ich erinnere mich genau an das Gefühl von Freiheit, von Aufbruch, von Abenteuer.

Am 3. Mai 1990 schrieb ich folgendes Gedicht:

Sommertraum

Im Innern eines Kreisels,
Beschwingt wie von Wein,
Reines, pures Leben,
Pulsierend in meinen Adern,

Sonnenschein verfängt sich im Haar,
Mein Salamanderkörper
Heizt sich auf am Tag,
Um zu glühen in der Sommernacht.

Mein ganzes Sein ein Schrei,
Fasziniert und glücklich,
Mein ganzes Tun ein Tanz,
So schnell wie ein Vogel –

Und so frei. Wann ist es vorbei ?
Ich will nie wieder, Wie ein Hamster,
In den Winterschlaf fallen,
Nie soll der Sommer zu Ende gehen.

Ich liebe so leicht,
Ich habe so lange gefroren …
Doch ich will nicht denken.
Singt ein Lied, Freunde,

Lasst uns noch ein bisschen
Von unseren Träumen reden.

***

Was immer ihr heute Abend macht – kommt gut in den Mai! Wir werden ein bisschen mit einer Freundin in den Wald gehen, zumindest ist das der Plan.

Gelesen: Philipp Blom, Was auf dem Spiel steht

Das Buch fügt sich gut an das zuvor von mir gelesene Werk desselben Autors an, Die Welt aus den Angeln. Dieses behandelt die „kalten Jahrhunderte“ rund um den Dreißigjährigen Krieg und zeigt, wie sich die Gesellschaft in Europa in jener Zeit – auch durch den Klimawandel – grundlegend veränderte. Was auf dem Spiel steht ist gewissermaßen eine ausführlichere Version des Nachworts dieses historischen Werks, das den Bogen in die Gegenwart schlägt.

Was auf dem Spiel steht ist ein Essay, allerdings über 200 Seiten lang. Darin legt Blom ausführlich (und hin und wieder ein klein wenig redundant) dar, wie sich aktuelle globale Herausforderungen – vorrangig Klimawandel, Digitalisierung (mit dem Wandel der Arbeitswelt) und überbordender Konsum – auf die politische Landschaft auswirken. Er fasst diese Entwicklungen in einer Dichotomie zwischen Liberalismus und Autoritarismus zusammen, meiner Meinung nach heutzutage eine treffendere Unterscheidung als rechts gegen links. Dabei erklärt er, warum nach 1989 nicht – wie von manchen erwartet – das „Ende der Geschichte“ und der ungebrochene Siegeszug des Liberalismus eintrat, sondern stattdessen autoritäre Kräfte wieder an Einfluss gewinnen, selbst in Staaten wie den USA und auch in Europa.

Blom stellt die Frage: Warum wollen Menschen sich wieder einmauern und Festungen errichten? Woher kommt all die Angst, wenn wir doch angeblich in der besten aller liberalen Welten leben?

Er analysiert, meiner Meinung nach sehr treffend, die Geburtskrankheit des Liberalismus: Er basiert auf freien Märkten, hat sich aber immer mehr zum Diener „des Marktes“ gemacht. Dieser Liberalismus kann jedoch viele der heute drängenden Probleme nicht lösen – nicht den Klimawandel, nicht die Tatsache, dass ein wachsender Teil der Menschen als Arbeitnehmer durch Automatisierung und Digitalisierung überflüssig wird, nicht die extreme Ungleichverteilung von Vermögen (der frühe Kapitalismus basierte nicht umsonst auf Sklavenarbeit und Ausbeutung), und auch nicht die Zerstörung der Umwelt durch unseren (Über-)Konsum.

Blom wählt dafür ein eindrückliches Bild: das des Hefepilzes, der in einer Zuckerlösung so lange Zucker in Alkohol umwandelt, bis die Alkoholkonzentration ihn selbst tötet.

Wir sind dieser Hefepilz.

Gleichzeitig stellt er fest, dass in unseren westlich-liberalen Gesellschaften viele der sogenannten „liberalen Werte“ nur noch Fassade sind. Entscheidungen werden anderswo getroffen („der Markt“), die Bürgerinnen und Bürger werden zu Konsumentinnen und Konsumenten reduziert. Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert – man denke an die Bankenrettungen nach der Finanzkrise 2008 ff. Und dennoch! Da ist die liberale Vision von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, immer noch wertvoll, immer noch erstrebenswert.

Dem gegenüber stellt Blom die autoritäre Vision: eine Zukunft, die verdrängt wird, weil man sich mit den realen Problemen nicht beschäftigen will. Stattdessen träumt man von einem vermeintlich besseren Gestern, das man zu rekonstruieren sucht – und um dieses zu schützen, baut man Mauern und schließt andere aus. Was Blom beschreibt, lässt sich 2025 in den USA sehr deutlich beobachten. Besonders interessant fand ich Bloms Gegenüberstellung des „liberalen Traums“ und des „autoritären Traums“.

Blom schreibt angenehm lesbar, literarisch statt trocken-akademisch, und streut immer wieder Humor und Sarkasmus ein (der Hefepilz!).

Sein Fazit ist im Grunde düster: Die Probleme werden nicht angegangen, nicht gelöst – und die Folgen werden katastrophal sein, unabhängig davon, welchem Gesellschaftsideal man anhängt. Und doch: Als Hoffnungsschimmer entwirft er eine fiktive Wendung, in der plötzlich ein kollektives Aha-Erlebnis einsetzt – alle verstehen, was los ist, und beginnen sofort, ihr Verhalten zu ändern: beim Konsum, bei der Energiegewinnung, bei allem.

Und, Überraschung: Eine Gesellschaft mit weniger Konsum, weniger Werbung, vielleicht auch weniger Arbeit muss gar nicht so schrecklich sein.

Gelesen: Fühl dich ganz von Lukas Klaschinski

Auf das Buch bin ich aufmerksam geworden, weil es in einer Radiosendung erwähnt wurde. Der Untertitel lautet: „Was wir gewinnen, wenn wir unsere Emotionen verstehen und zulassen“. Ich hatte es mir gebraucht besorgt und recht schnell durchgelesen.

In dem Buch beschreibt der Psychologe Klaschinski, wie er selbst einen besseren Zugang zu seinen Emotionen fand. Rahmenhandlung ist ein Dunkel-Retreat, bei dem er sich intensiv mit seinen Gefühlen auseinandersetzt. Er illustriert seinen Weg zu mehr emotionaler Offenheit mit persönlichen Erlebnissen.

Daran habe ich mich anfangs ein bisschen gestoßen, ehrlich gesagt – nicht am Vorgehen generell, sondern eher daran, dass ich mich im Leben eines jungen Mannes irgendwo zwischen Kite-Surfen in Südafrika und Klippenspringen in ich-weiß-nicht-wo nicht so ganz wiederfand. Später folgen dann aber andere Beispiele aus dem persönlichen Leben, die ich besser nachvollziehen konnte.

In jedem Kapitel behandelt er ein bestimmtes Gefühl – wie Wut, Scham, Liebe oder Angst – intensiver und beschreibt, wie wir diesen Gefühlen, auch den positiven, oft ausweichen oder sie wegdrücken, bis wir sie nicht mehr ignorieren können und Probleme bekommen. Entweder, weil wir sehr viel Energie in das Unterdrücken der Gefühle stecken müssen oder, weil wir anfangen, wichtige und schöne Dinge im Leben zu vermeiden, nur um unangenehme Gefühle nicht spüren zu müssen.

Klaschinski baut bei seinen Ausführungen auf der mir inzwischen gut vertrauten Acceptance and Commitment Therapy (ACT) auf. Das heißt, es geht darum, ein Gefühl überhaupt erst einmal wahrzunehmen und es dann – ohne es verändern zu wollen – zu akzeptieren. Statt zu versuchen, Gefühle oder Gedanken wegzudrücken, distanziert man sich etwas von ihnen, um das Heft des Handelns in der Hand zu behalten. Denn wichtig ist nach ACT, seine Werte zu kennen und ihnen gemäß zu handeln – und dabei gegebenenfalls auch Gefühle wie Angst zu akzeptieren.

Ich fand es sympathisch, dass sich der Autor in dem Buch ziemlich „nackt gemacht“ hat, was seinen eigenen Weg angeht. Ich mochte auch, dass er daran erinnert, dass unangenehme Gefühle ihre Berechtigung und ihren evolutionären Sinn haben. Unsere angst- und sorgenfreien Vorfahren endeten schließlich oft im Magen des Säbelzahntigers – und trugen so nicht mehr zur Weitergabe ihrer Gene bei.

Wie hilfreich seine Tipps sind – es gibt auch herunterladbare Trancereisen, die ich aber nicht ausprobiert habe – kann ich schwer einschätzen, weil ich schon recht belesen bin rund um ACT. Ich denke, die Grundprinzipien sind gut erklärt und nachvollziehbar. Ich kann mir gut vorstellen, dass es ein gutes Einstiegsbuch ist für Menschen, die sich mit ACT noch nicht viel beschäftigt haben, aber lernen wollen, sich mehr auf ihre Gefühle einzulassen und mehr nach ihren Werten zu leben.

Ich fand es nicht schlecht, mir diese Dinge wieder einmal in Erinnerung zu rufen.

Englischer Garten Eulbach

Das Wetter hat umgeschlagen – Regen und Migräne machen mich genügsam, sodass ich momentan nur in der näheren Umgebung meine Runden drehe. Die Tage davor waren wir noch mehr unterwegs, unter anderem zum Auerbacher Schloss – von Hochstädten hinaufgewandert – und im Englischen Garten Eulbach bei Erbach. Kaum zu glauben, aber wahr: Wir waren tatsächlich vorher noch nie dort. (Ich denke manchmal ja, mittlerweile haben wir uns wirklich alles im Umkreis von 50–100 km angeschaut.)

Die Holzkirche im Englischen Garten Eulbach

Den Garten fand ich ganz nett. Er wird als ältester archäologischer Park Deutschlands bezeichnet – wobei man zur Zeit seiner Gründung, vor über 200 Jahren, noch etwas freihändiger mit Archäologie umging. Aber dazu gleich mehr.
Wie ich von Wikipedia erfahren habe, heißt der Park nach dem Dorf Eulbach, das im Dreißigjährigen Krieg wüst gefallen ist – sprich: ausgestorben und aufgegeben wurde. Solche Wüstungen gibt es im Odenwald an mehreren Orten. Meist wurden die Dörfer aber später, oft im 18. oder 19. Jahrhundert, verlassen, weil die Bewohner auswanderten.

Franz I zu Erbach-Erbach haben schon viele an die Nase gefasst.

In Eulbach ließen die damals herrschenden Erbacher Grafen (genauer: die von Erbach-Erbach – das Geschlecht hatte drei Linien) um 1770 ein Jagdhaus errichten. Franz I. zu Erbach-Erbach ließ es später zum kleinen Schlösschen ausbauen und den Park anlegen. Der Gartenarchitekt war Friedrich Ludwig Sckell, der unter anderem den Englischen Garten in München konzipierte und Chefgärtner des Schlossgartens Schwetzingen war.

Das Jagdschloss

Dabei wurden alle möglichen historischen Dinge integriert: Reste römischer Limesanlagen, Grenzsteine und Teile mittelalterlicher Gemäuer, die zu einer (inzwischen recht windschiefen) kleinen Fantasieburgruine zusammengesetzt wurden. Aus Teilen römischer Mauern wurde sogar ein (fantasievoller) Obelisk gefertigt.

Der Obelisk

Man kann dort auch diverse Abbildungen des Grafengeschlechts sehen. Schilder mit QR-Codes bieten einige Infos an.

Die Fantasieburg

Die kleine Holzkirche war bei unserem Besuch leider nicht zu betreten. Es gibt einen Teich mit Seerosen und diverse Wildgehege mit Hirschen, Wildschweinen und Wisenten. Irgendwo sollten auch Mufflons sein – die haben wir allerdings nicht entdeckt.

Nein, ich hatte kein Futter gekauft, sorry.

Klar, lange ist man in dem kleinen Park nicht unterwegs, aber ich fand ihn durchaus sehenswert und seine 6 Euro Eintritt wert. Für Familien mit Kindern ist der Spielplatz sicher interessant.

Danach waren wir noch ein bisschen in Erbach unterwegs. Dabei haben wir festgestellt, dass wir bei früheren Besuchen wohl meist ziemlich zielstrebig den historischen Stadtkern am Schloss übergangen und stattdessen in der eher austauschbaren Fußgängerzone gelandet sind. Die kleinen Gassen mit den alten Häusern sind wirklich sehr pittoresk.

Von den pittoresken Gassen kein Bild, aber vom Lustgarten.

Hier sind wir mit dem Nees-Haus schon wieder der Familie Nees begegnet (siehe Eintrag davor mit der Nees-Säule und dem Bezug zum Nees-Stein).

Einen Gruß entsandte ich an Odin/Wotan auf seinem achtbeinigen Ross – er gehört zu einer Reihe ähnlicher Skulpturen mit Bezug zur Nibelungensage hier im Odenwald.

Sleipnir, nur echt mit den acht Beinen.

Steinerne Zeugen der Vergangenheit

Manchmal sind Spaziergänge durch den Odenwald historisch interessanter, als man vorher beim Blick auf die Wanderkarte meinte. So auch unsere Runde zwischen der B 460 / Parkplatz Wegscheide und dem Mossautal. Alle beschriebenen Dinge kann man entlang des „Lärmfeuerwegs“ (gelbe 3 im Kreis) erwandern. Der Weg ist rund 8,5 km lang. Bis vor Kurzem (Stand April 2025) gab es hier zahlreiche Baumfällungen, daher sind die Wege zum Teil noch etwas zerwühlt – aber sie waren bei unserem Aufenthalt wieder begehbar.

Ein steinerner Tisch

Was man da sehen kann?
Zum einen wurden auf einem Teil dieses Weges viele „Bäume des Jahres“ gepflanzt. Infotafeln informieren auch über Exemplare, die der Waldlaie vielleicht noch nicht kennt – wie die Elsbeere oder die Wildbirne.

Der „Baum des Jahres“ Weg

Wenn man vom Parkplatz Wegscheide aus zuerst den rechten 3er-Weg wählt, läuft man auf der alten Poststraße entlang der Grenze zwischen dem Kreis Bergstraße und dem Odenwaldkreis. Das war schon früher eine wichtige Grenze, denn hier verlief die Grenze der Mark Heppenheim, die Karl der Große 773 dem Kloster Lorsch schenkte. Und rund 700 Jahre später verpfändete der Mainzer Erzbischof Diether von Isenburg dieses Gebiet an die zuvor verfeindete Kurpfalz, da er Unterstützung für seine Querelen mit Papst und Kaiser brauchte. Das Ganze fasst man heute unter dem Begriff „Mainzer Stiftsfehde“ zusammen. Tatsächlich blieb das Gebiet offiziell lange – genauer gesagt zwischen 1460 und 1623/1650 – kurpfälzisch.

Ein „Abgelöst“-Stein

Und die Wittelsbacher (genau, die mit den „bayerischen“ Rauten) waren damals die Herrscher der Kurpfalz. Sie stellten überall große Grenzsteine auf, um ihren Herrschaftsanspruch über dieses neue Gebiet zu betonen. Als es gegen eine hohe Ablösesumme wieder an Mainz zurückging, klöppelten die Mainzer auf alle Steine die Jahreszahl 1650, das Mainzer Rad (als Wappen) und das Wort „abgelöst“ ein. Man findet diese Steine häufig entlang der ehemaligen Grenze.

Hier sieht man schön, wie ein Grenzwall und ein Grenzbaum mit mehreren Stämmen zusätzlich zum Grenzstein die Grenze markieren.

Nach einer Kreuzung mit einer Hütte (die den frugalen Namen „Hütte“ trägt) und einem steinernen Tisch (siehe Bild oben) kommt man an die „Nees-Säule“. Das ist nicht der einzige Gedenkstein mit diesem Namen. Ein Nees-Stein befindet sich auch rund 5 km weiter nördlich und erinnert an den Wildhüter Ernst Nees, dem 1836 von dem Freund eines von ihm erschossenen Wilderers ein Auge ausgeschossen wurde.

Diese Nees-Säule hier ist wiederum der Grabstein des Wildhüters Georg Nees († 1828) und seiner Tochter Karoline († 1859). Begraben sind die beiden allerdings nicht im Wald – das Grabmal wurde später dorthin versetzt.

Ein Grabstein im Wald…

Bleibt man der „3“ weiter treu, kommt man zum Mossauer Bild. Das ist ein steinerner Bildstock, in dem sich eine (beschädigte) Madonna mit Kind befindet. Auch wenn der Bildstock heute irgendwo im Nirgendwo zu stehen scheint: Früher war hier ein wichtiger Pilgerweg nach Walldürn, wo das „Heilige Blut“ – ein Tuch mit während des Gottesdienstes entstandenen Weinflecken, die den gekreuzigten Jesus und die Jünger darstellen sollen – verehrt wurde.

Der Bildstock Mossauer Bild

Das Mossauer Bild soll alt sein, noch aus dem 16. Jahrhundert. Man findet dort immer wieder kleine Devotionalien – ein Engelchen, ein blühender Zweig.

Das Mossauer Bild

Eine Weile später kommt man auf den Berg Lärmfeuer. Der heißt so, weil früher dort Lärmfeuer gebrannt haben – belegt aus dem Dreißigjährigen Krieg und den napoleonischen Feldzügen, so sagt die Geopark-Tafel vor Ort. Eine große Hütte findet sich ebenfalls auf dem Berg, bei der ich mich frage, für welchen Zweck sie wohl einmal ausgelegt war – Übernachtung von 60 Pfadfindern auf einmal?


Interessant fand ich auch einen Stein, der – ohne erläuternde Tafel – in der Nähe stand. Darauf sieht man das Wappen der Grafen zu Erbach mit der Inschrift:
„Omnia cum Deo et nihil sine eo“ („Alles mit Gott und nichts ohne Gott.“)
Dazu findet man das Datum 23. Dezember 1883 sowie † 10.2.1920. Wie ich googeln konnte, ist das ein Gedenkstein für Graf Erasmus zu Erbach-Erbach (1883–1920). Warum der Stein (ausgerechnet) dort aufgestellt wurde, weiß ich nicht.

Drei Sterne heißt hier immer, die Erbacher Grafen sind mit von der Partie.

Tolle Waldwege (auch abseits der 3) findet man dort auch. War eine wirklich schöne Tour, die allerdings trotz moderater Länge und Steigung lange dauerte, vielleicht, weil es so viel zu sehen gab.

Der beste Ehemann von allen.

Gelesen: Philipp Blom – Die Welt aus den Angeln

Ich gehöre ja zu einer Gruppe heimat- und kulturinteressierter Menschen, die als Geopark-Vor-Ort-Begleiter*innen nicht nur kleine Führungen und Vorträge zur Ortsgeschichte, Flora, Fauna, Sagenwelt usw. anbieten – wir forschen auch ein bisschen vor uns hin. (Nebenbei: Wandern und Heimatkunde – ich habe schon mit gut 50 auf ein paar langlebige Hobbys gesetzt, die ich, eine halbwegs gute Gesundheit vorausgesetzt, auch als Rentnerin noch prima betreiben kann.)

Ein Thema bei uns ist auch, wie sich Umweltereignisse – wie etwa die Magdalenenflut von 1342 – auf die (regionale) Geschichte ausgewirkt haben könnten.

Daher hat mich dieses Buch in der Stadtbibliothek gereizt und beim Lesen begeistert. Der volle Titel lautet: „Die Welt aus den Angeln: Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart“ – was, denke ich, auch ein bisschen die zeilenlangen Titel der Werke parodiert, die in jener Zeit erschienen.

Was Blom in dem 2017 veröffentlichten Werk auf gut 250 Seiten (plus die sehr ausführliche Bibliografie) bietet, ist nicht weniger als ein Überblick darüber, wie sich nach der mittelalterlichen Warmzeit während einer schnellen und extremen Abkühlungsphase die heutigen kapitalistischen, säkularen und – mehr oder weniger – demokratischen Ideen und Praxen der Moderne herausgebildet haben. Dabei verknüpft er sehr spannend auch kleine, scheinbar nebensächliche Details, die nicht immer, aber oft mit eben dieser klimatischen Abkühlung zu tun hatten – oder zumindest Hand in Hand gingen.

Da geht es um den Siegeszug des Bieres, das den klimaempfindlicheren Wein ablöste, ebenso wie um die (Vor-)Denker der Aufklärung, die gleichzeitig die Brüderlichkeit der Menschen betonten und dennoch vor der Sklaverei die Augen verschließen konnten. Überhaupt entstand damals nicht nur ein Bürgertum, das in vielen Dingen der starren Feudalherrschaft den Rang ablief, sondern auch das Prinzip „Wirtschaftswachstum durch Ausbeutung“: Die Gewinne, die die Pfeffersäcke in Amsterdam oder Hamburg einfuhren, wurden auf dem Rücken ausgebeuteter Kolonialvölker, Sklaven und einer verarmten Unterschicht im eigenen Land erwirtschaftet.

Das Panoptikum mit seinen bunten Themen war auch sehr kurzweilig zu lesen. Besonders interessant war für mich der lange Epilog, der den Bogen zum Hier und Heute und unserem Klimawandel schlägt – oder besser: zu 2017. Vieles klingt inzwischen fast schon prophetisch, wie etwa die Warnung, dass die aktuellen Entwicklungen immer mehr Menschen global „für das Raunen des autoritären Traums empfänglich machen“ werden.

Blom arbeitet auch sehr deutlich heraus, wie liberale Träume der Aufklärung in einen vergötzten „Markt“ mündeten, dessen neoliberal-kapitalistische Prinzipien inzwischen als quasi-religiöse Dogmen gelten, die nicht hinterfragt oder gar geändert werden dürfen – obwohl sie uns und der Welt angesichts des Klimawandels immer mehr Schaden zufügen.

Gehirnfutter – sehr empfehlenswert!

Urlaub im Odenwald und drumherum

Ich und der beste Ehemann von allen haben gerade die Osterferien frei. Das Wetter (viel zu warm, viel zu trocken – ja, das ist mir bewusst) lädt ja gerade sehr zu Ausflügen ein. Klar, es ist auch schön, mal in den Urlaub zu fahren, aber ehrlich gesagt kann ich mich hier auch prima wochenlang damit vergnügen, diverse Ausflüge in die nähere und weitere Region zu machen.

Wir wohnen hier – Vorsicht, abgedroschener Tourismuswerbespruch – da, wo andere Urlaub machen. Wir haben hier im vorderen Odenwald und drumherum Städte (wobei es mich in die großen wie Mannheim eher selten zieht, außer ich will ins Museum), Dörfchen, Burgruinen en masse, Wälder, Weinberge, Flüsse und Seen in der Rheinebene, viele spannende Felsformationen, und überhaupt ist es hier wunderschön, wenn – wie zurzeit (zu früh, ja, ich weiß) – die Streuobstwiesen blühen. Apfel und Birne vor allem, nachdem zuvor die blühenden Mirabellen und Wildkirschen die Waldränder gesäumt haben.

Kennt ihr das Kinderbuch Die Brüder Löwenherz?

Und dann ist es natürlich auch schön, ein bisschen Zeit zu haben, um Menschen zu treffen, mit denen es sonst schwierig ist, auf einen terminlichen Nenner zu kommen.

Was wir in der letzten Woche unter anderem angesteuert haben:

Der Dachsbuckel und der Kunstweg bei Abtsteinach und das Bachbett des jungen Mörlenbachs bei Kreidach


Die Walpurgiskapelle bei Weschnitz

Das Eiterbacher Tal bei Siedelsbrunn

Weinheim (mein Lieblingsstädtchen, wo wir auch mal sieben Jahre oder so gewohnt haben)

Die Ketscher Rheininsel

Gelesen: Haruki Murakami, Erste Person Singular

Ich hatte ja vor Kurzem geschrieben, dass Margaret Atwood meine Lieblingsschriftstellerin ist. Ein weiterer Autor, dessen Bücher ich zu einem großen Teil gelesen und zum überwiegenden Teil auch gemocht habe, ist Haruki Murakami. Er ist wahrscheinlich der im Westen bekannteste zeitgenössische japanische Autor, und sein Stil – eine Art magischer Realismus – ist sehr prägend.
Sagen wir es so: Jeder weiß, was mit kafkaesk gemeint ist, und wer Murakami kennt, würde auch verstehen, was mit murakamiesk gemeint ist. Wie in einem Traum tauchen bei ihm oft völlig irreale und obskure Elemente auf, die mit alltäglichen und logisch aufgebauten Handlungssträngen verschmelzen.

Die Kurzgeschichten in der Sammlung Erste Person Singular tragen nicht alle solche Elemente in sich – in manchen geht es um relativ normale, aber skurrile Details, um die sich eine Geschichte entspinnt. Es geht viel um Zwischenmenschliches, und wie immer taucht viel Musik auf (Jazz und Klassik – aber nein, auch die Beatles).

Ich habe das Buch schnell und mit Vergnügen weggelesen.

Gelesen: Margaret Atwood, „Die Kunst des Kochens und Auftragens“

Kennt ihr Margaret Atwood? Falls nicht, habt ihr meiner Meinung nach die beste lebende Autorin verpasst, die es gibt. Ich liebe die Bücher der Kanadierin, seit ich eine Teenagerin bin. Das erste, das ich las, war Katzenauge, und es ist bis heute eines meiner Lieblingsbücher. Das bekannteste Werk von ihr ist der dystopische Roman Der Report der Magd. Die Bandbreite ihrer Texte ist sehr groß – da gibt es dicke Romane und Short Stories, die manchmal nur wenige Absätze lang sind. Manche Bücher greifen reale historische Ereignisse auf, wie Alias Grace, andere spielen in einer (meist düsteren) Zukunft, wie Oryx und Crake.

Das Buch, das ich nun gelesen habe, beinhaltet eine Reihe von Erzählungen der Autorin – von ersten literarischen Gehversuchen als Teenagerin bis hin zu Geschichten der heute 85-Jährigen, die erst wenige Jahre alt sind. Auch hier haben wir Geschichten, die real sein könnten, scheinbar Unspektakuläres – die Mutter bekommt ein zweites Kind, der Vater hat einen Schlaganfall. Dazwischen finden sich aber auch kurze Geschichten mit SF-Elementen, oft humorvoll: der Fliegenpilz, der den Marsianern die kanadische Geschichte erklärt. Oder es wird makaber wie bei der Hand, die durch den Flur kriecht, auf der Suche nach einem Pendant.

Was ist das Besondere an Atwood? Ich lese sie – zugegeben – nur auf Deutsch, und doch ist es die Sprache, die mich schon immer fesselte. Sie beschreibt ihre Figuren genau, mit spitzer Feder, mit Humor, ja, manchmal auch mit etwas bösem Sarkasmus – und doch mit Einfühlung, mit Verständnis. Atwood kann Sätze schreiben wie Peitschenhiebe.

Und gleichzeitig schafft Atwood in ihren Texten eine Stimmung, die ich schwer beschreiben kann, in der ich mich aber wiederfinde. Ihre Protagonist:innen – zumeist Frauen – sind in der Regel keine Held:innen, keine moralisch oder sonstwie überlegenen Wesen. Sie können einfühlsam sein, intensiv lieben, und völlig ziellos sein und dann wieder spontan und radikal den Kurs wechseln. In den Randfiguren begegnen wir oft dem Typ des etwas schrulligen, aber sympathischen und genialen Mannes – ein Forscher, ein Nerd, ein Wissenschaftler – oder patenten Frauen, die dafür sorgen, dass etwas zusammenhält, der Garten bestellt wird, der Forscher nicht im Wald verloren geht.

Die Stimmung und die Sicht auf die Welt in den Büchern möchte ich so beschreiben:
Stellt euch vor, in einem sommerlichen See schwimmen viele junge Mädchen an einem Ferientag. Manche Autor:innen würden wohl wie von oben auf die Mädchen herabblicken, Muster beschreiben und erläutern, warum welches wohin schwimmt. Andere würden sich fiktiv mitten hinein gesellen, das Planschen beschreiben oder das, was sie sich an Worten zurufen – vielleicht auch etwas unappetitlich von jungen, schlanken Körpern fantasieren. Wieder andere würden sich auf eine verklärte Jugend konzentrieren: der Geruch von Sonnencreme, der Geschmack von Eis am Stiel, Ferienlaune.

Atwood mag all das auch beschreiben. Doch dann taucht sie mit uns nach unten, Richtung Seegrund, wo sich lange Blätter von Wasserpflanzen in der leichten Strömung bewegen, und oben, weit oben, scheint die Sonne auf das Wasser. Und wir sehen die Beine der schwimmenden Mädchen strampeln, und es sieht ein bisschen lächerlich aus und grotesk und zugleich anrührend, denn sie strampeln, um nicht unterzugehen, um nicht abzusinken in die Welt der schweigenden Wasserpflanzen, des Morasts, der Seeungeheuer. Ein heiterer Ferientag? Nein, die Mädchen schwimmen um ihr Leben.

Natürlich ist Atwood Skorpionin als Sternzeichen.

Als ich Teenagerin war, wollte ich mal so dichten können wie Sylvia Plath und so Kurzgeschichten und Romane schreiben wie Margaret Atwood.

Man soll sich seine Ziele ja hoch stecken.

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