Lesen, Wandern, Palavern

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Wechseljahresliteratur

Zwei sehr verschiedene Bücher für die Frau um die 50. Beide Bücher sind recht orangefarben, sonst sehr unterschiedlich.

Intro

Ich habe ja inzwischen ein gerütteltes Maß an Büchern über die Wechseljahre im weitesten Sinne gelesen, manches ältere Bücher, die vor Jahrzehnten eine Pionierleistung waren, und auch aktuellere Werke. Manche Bücher konzentrieren sich auf das medizinische Wissen, andere betonen mehr die Psychologie und wieder andere auch spirituelle Aspekte. Viel wiederholt sich, viel widerspricht sich. Gerade lese ich ein Buch, das in den letzten Jahren wohl zu den bekanntesten Bestsellern zum Thema gehört: Woman on Fire von Dr. Sheila de Liz. Und ich muss gestehen, ich war ein bisschen enttäuscht und tat mich schwer, über die Hälfte hinauszukommen, und habe so die zweite Hälfte nur noch durchgeblättert und überflogen.

It’s the estrogen, stupid!

Ja, sie schreibt flott, leicht und auch humorvoll (Östrogen, Progesteron und Testosteron als die drei Engel für Charlie), wertschätzend, tabufrei und als Fachfrau hat sie mit vielem sicher recht. Aber den Untertitel „Alles über die fabelhaften Wechseljahre“ fand ich darin nicht so recht wieder. Ja, sie greift auch Themen auf wie den Sex mit Ü50, der in anderen Büchern ein bisschen kurz kommt, und der Tipp, rechtzeitig mit östrogenhaltigen Salben im Vaginalbereich zu beginnen, klingt sinnvoll. Aber auch sonst scheint – wenn man ihr glaubt – in den Wechseljahren an einer Hormonersatztherapie (HET) mit bioidentischen Hormonen fast kein Weg vorbeizuführen, will man nicht als eine Art demente Dörrpflaume mit Glasknochenkrankheit enden. Was ist daran fabelhaft? Bestenfalls kann man genug Hormone einnehmen, dass sich wenig ändert. Schlimmstenfalls – siehe oben. Ich empfinde das als sehr defizitorientiert.

Und ich denke auch manchmal – man stelle sich vor, die für Eltern und Teenager so beschwerlichen Pubertätsjahre könnte man mit entsprechenden Hormonprodukten viel smoother und reibungsfreier gestalten… Wie fühlt sich der Gedanke an? „Aber die müssen doch rebellieren und sich wegstrampeln und mal richtig histrionisch sein“, denke ich. Aber wer sagt denn, dass wir Frauen in den Wechseljahren nicht auch mal rebellieren und strampeln und histrionisch sein müssen?

Mir ist natürlich bewusst, dass die Brustkrebs-Horrorstories aus den 20. Jhd sich noch auf ganz andere Arten von Hormontherapien bezogen. Dennoch raten auch heute noch viele Ärzte von Hormontherapie eher ab, wenn es in der Familie schon mal Brustkrebs gab (was bei mir der Fall ist), oder regen zumindest an, es sehr genau abzuwägen. Das gilt übrigens auch für Phytohormone wie jene aus Yams, Sibirischem Rhabarber, Rotklee oder was weiß ich. Die Aussagen schwanken zwischen „potentiell schädlich“, „keinerlei Wirkung“ und „eine Alternative zur HET bei leichteren Symptomen“. Da soll frau sich mal entscheiden, was sie mit leichten bis moderaten Beschwerden tun soll…

Ohne HET nur noch eine Ruine, dem Verfall preisgegeben?

It’s (only) the estrogen, stupid?

Was mich an dem Buch auch etwas enttäuschte, ist, dass jenseits von HET (und ein paar Tipps rund um Sex) relativ wenig Raum auf die generelle Lebensgestaltung gelegt wurde. Aus anderen Studien (wie gesagt, ich habe sehr viel gelesen, ob gedruckt oder online) wird zum Beispiel deutlich gemacht, welchen großen Einfluss auf eine gesunde Prä-, Peri- und Postmenopause die Klassiker des guten Lebens haben: gesunde Ernährung, viel Bewegung, genug Schlaf, nicht zu viel Stress, sinn- und bedeutungsvolles Tun, soziale Verbindungen. Ja, das wird auf ein paar Seiten erwähnt à la „natürlich Kraftsport, Ernährungsumstellung, genügend schlafen, selbst ich Powerfrau brauche jetzt mehr als 5 Stunden Schlaf!“. Ich finde mich da halt nicht so ganz wieder als Frau, die stolz drauf ist, wenn sie am Tag ein Stündchen spazieren geht und Nüsse nascht statt Chips und ansonsten verquollen durch den Tag torkelt, wenn sie keine 7 Stunden Schlaf hatte.

Du kannst nicht immer 17 sein“ – Haha! Von wegen!

Ich selbst habe ja nun mit knapp 52 einige der Symptome, die man kennt, meist für kurze Zeit gehabt – Gelenkschmerzen, Herzklopfen, Schlaflosigkeit vor allem, aber keine Hitzewallungen. Meine Psyche erinnert halt – leider? – zurzeit oft an die Pubertät und gibt mir davon eine 2.0-Version.

Ich rede ziemlich offen über die Wechseljahre, und das ist ja auch etwas, was unterschiedlich ankommt. Für manche Frauen, das merke ich, ist es eine Erleichterung, dass sie mal drüber reden können, vor allem für solche aus einem konservativen und beruflich männlich geprägten Umfeld. Anderswo las ich dagegen, es werde ja schon viel zu viel über das Thema geredet, Frauen da – schon wieder! – als defizitäre, schwache Geschöpfe dargestellt, die sich schonen müssen. Hm. Wie so oft ist es wohl ein Mittelweg zwischen Auf-sich-Achten und Sich-in-Zipperlein-reinsteigern…

Mal Sonne, mal Wolken – auch Ü50

Pflanzen und HET

Wie sieht denn da der richtige Weg durch diese Zeit aus? Ich kann nur sagen, wie er für mich aussieht. Ich nehme vor allem pflanzliche Mittel ein, die manches erleichtern sollen, vor allem Johanniskraut gegen depressive Verstimmungen und Melatonin-Depot-Kapseln und Baldrian für besseres Schlafen. Gerade versuche ich auf Anraten meiner Gynäkologin Phytoöstrogene, ob die etwas ändern, werde ich sehen. Bisher machen sie nur Magendrücken.

Ansonsten gönne ich mir schon seit Mitte 40, dass ich als Freiberuflerin nicht mehr Vollzeit arbeite, um mein Stresslevel zu senken.

Aber ich bin auch keine alleinerziehende Frau mit zwei pubertierenden Kindern, einer dementen Mutter und einem stressigen Vollzeitjob, der zu Stress kaum eine Alternative bleibt. Ich kann und ich darf diese Phase dafür nutzen, mal einen Schritt zurückzutreten, statt mit HET-Unterstützung einfach weiterpowern zu können, Alternative Burnout und Armut.

Veränderliches Wetter

Was darf sich ändern?

Eine liebe Freundin und zugleich Psychotherapeutin sagt oft den Satz: „Was darf sich beim Klienten ändern?“ Sprich: zu welchen Veränderungen jenseits von „meine Stimmung soll besser sein“ sind die Klient:innen in einer Psychotherapie bereit? Mir geht es da ähnlich zurzeit. Meine Lebensumstände sind so, wie ich sie haben will, von Partnerschaft über Geld und Hobbys bis Job. Und doch werde ich unaufhaltsam älter, und neben den Dingen, die ich irgendwann ändern muss, zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen, kommt ja das hinzu, was ich vielleicht doch mal ändern könnte. Kann ich es mir vorstellen, wieder mehr kreativ zu sein, noch ein Buch zu schreiben? Wäre es etwas für mich, zusätzlich zu meinem geschätzten Zeitungsjob mal eine HP-Psychotherapie- oder Coaching-Ausbildung zu machen? Wie finde ich wieder mehr Zugang zu meiner Spiritualität?

So fühle ich zurzeit eine starke Tendenz zur Innenschau. Ich will nicht mehr in den sozialen Medien mit Besserwissern jeder Couleur diskutieren, ich will mich nicht unnötig für andere aufreiben, ob nun beruflich oder privat. Ich sehe mich aktuell auf den Wogen, die – wie gesagt – an das Auf und Ab der Pubertät erinnern, und frage mich neugierig: Wo geht diese Fahrt hin? Was muss, was darf sich ändern? Ist es nicht richtig und gut, jetzt auch als gestandene Frau Ü50 ab und zu auf den Tisch zu hauen voller östrogenmangelnder Gereiztheit und zu sagen: „Ich mach das nicht mehr mit!“?

Herbst, Zeit der Reife

Embrace the juicy-crone year!

Jetzt jenseits von den rein gesundheitlichen Aspekten, die man auch auf ein paar Seiten ganz gut zusammengoogeln kann, fand ich das hilfreichste Buch über das Älterwerden als Frau eines zwischen Psychologie und Spiritualität und etwas Old-School-Feminismus, geschrieben von einer Jung’schen Tiefenpsychologin. Es heißt Feuerfrau und Löwenmutter. Göttinnen des Weiblichen und stammt von Jean Shinoda Bolen. Die Originalausgabe Goddesses in Older Women: Archetypes in Women over Fifty erschien 2002.

Bolen arbeitet mit Archetypen, und es gibt auch weitere Bücher von ihr zum Thema (am bekanntesten wohl Göttinnen in jeder Frau: Psychologie einer neuen Weiblichkeit). In dem Buch geht es darum, welche Archetypen für eine ältere Frau lebbar sind (wie die weise, unabhängige Hekate), welche Probleme die bringen können, die man vorher lebte („die verführerische Aphrodite“ ist Ü50 komplizierter als „Artemis allein im Wald“). Statt zu klagen, dass manches vorübergeht, rät sie: embrace the juicy-crone years.

Und das geht für mich ein Stückchen über das Thema östrogenmangelbedingte Scheidentrockenheit hinaus!

PS: Die Bilder stammen vom Spaziergang heute und sind frei assoziiert eingefügt, damit ihr, liebe Leser, nicht so vor der Bleiwüste zurückschreckt 😀

Gelesen:„Die Frau als Mensch“ von Ulli Lust

„Die Frau als Mensch“ neben einer frühgeschitlichen Gasbetonfigur plus Keramikeule

Auf dieses Buch hatte ich schon lange – Wortspiel! – Lust. Jetzt konnte ich es aus der nächsten Stadtbücherei ausleihen und habe es mit viel Vergnügen, aber manchmal auch mit Wehmut und Wut durchgelesen.
Es geht in dem Buch um die Anfänge der Menschheitsgeschichte und darum, wie lange Zeit die Rolle der Frauen und auch „weiblicher“ Eigenschaften wie Empathie darin kaum gewürdigt wurde. Nachdem man in Europa zähneknirschend anerkannt hatte, dass der Mensch nicht vor 6.000 Jahren als weißer, blonder Mann aus Gottes Würfelbeutel gepurzelt ist, hat man sich ein recht düsteres Bild der Vorgeschichte gemalt. Die „Urmenschen“ wurden als haarige, grunzende Wilde dargestellt, die ständig bestrebt waren, ihrem Gegenüber die Keule über den Kopf zu ziehen oder eine Frau an den Haaren in ihre Höhle zu schleppen. Die männlichen Forscher einer patriarchalen Zeit projizierten ihre Kulturvorstellungen auf die Vorgeschichte. So war für sie klar, dass die Männer wichtiger waren – als Anführer, als Jäger –, während die Frauen devot um sie herumkrochen und die Höhle putzten.

Nun passen weder die archäologischen Funde noch ethnologische und psychologische Erkenntnisse zu diesem Bild. So sind die ersten Darstellungen von Menschen über Jahrzehntausende hinweg zu 90 Prozent weiblich. Überall findet man die kleinen Frauenstatuetten, die frühere männliche Forscher „Venus“ nannten, denn: welches Weib außer einer Göttin würde sich so schamlos nackt präsentieren? Wieder mal: Projektion.

Ulli Lust malt in dem grandiosen Comic ein anderes und wissenschaftlich fundiertes Bild der Vorgeschichte, ergänzt es immer wieder durch eigene Erlebnisse im Leben, die oft schmunzeln lassen. So konstatiert sie ihrem sechsjährigen Ich, dem die Jungen mit ihrem ungeschützten Gebaumel zwischen den Beinen leid taten, „Penismitleid“ statt Penisneid. Und auch die bildliche Umsetzung, wie die Interaktion zwischen zwei Politikerinnen à la Bonobos aussehen würde, hat mich lachen lassen.
Traurig macht dagegen die Art und Weise, wie Jäger- und Sammlerkulturen wie die Buschleute in Afrika von unserer modernen Gesellschaft einfach plattgewalzt und ausgelöscht wurden – obwohl wir in puncto soziales Verhalten von solchen Gruppen einiges hätten lernen könnten.

Denn, das legen auch archäologische Funde nahe, auch unsere menschlichen Vorfahren in der Steinzeit kümmerten sich um Schwächere, behandelten Verletzte, unterstützten Menschen mit Behinderungen. Ja, es gibt sogar Anzeichen, dass diese Menschen eine herausragende Rolle in dem Stamm spielten. Frauen waren keine verschüchterten Weibchen, sondern groß und muskulös. Es gibt einige Funde von „Steinzeitjägern“, bei denen man erst später herausfand, dass die Knochen weiblich waren. Und wenn man Menschen darstellte, dann waren es meist Frauen.

Einen großen Schwerpunkt legt Ulli Lust auf die Entstehung der Kunst und auch der Religion. Sie beschreibt dabei schamanische Traditionen späterer Kulturen, die sich so oder so ähnlich vielleicht auch schon vor vielen tausend Jahren fanden.

Und wenn man das Buch zuklappt, keimt in einem die kleine Hoffnung auf, dass dieses turbokapitalistische Patriarchat vielleicht nur eine kleine Episode sein könnte in einer langen Menschheitsgeschichte, die viel mehr auf Kooperation und Wohlwollen angelegt war.

Fazit: Unbedingt lesen! Und: Ich brauche definitiv roten Ocker.

Gelesen: Heinz Ohff, Der grüne Fürst

Diese Biografie ist mir zufällig in dem von meinem Mann und mir betreuten Bücherregal in die Hände gefallen. Der Fürst, von dem hier die Rede ist, ist Hermann Fürst von Pückler-Muskau (1785–1871). Ich gestehe, dass ich mit dem Namen so gar nichts anfangen konnte und auch nicht viel schlauer war, als im Buch erklärt wurde, dass nach ihm das (mäßig schmackhafte, finde ich) Fürst-Pückler-Eis benannt wurde. Wobei man sagen muss, dass Pückler einem Konditor nur aus Nettigkeit diese Benennung gestattete und das Originalrezept auch komplexer war und Alkohol enthielt. Aber sei’s drum.

Nicht bewusst war mir dagegen, dass Pückler zu seiner Zeit einer der bekanntesten Schriftsteller war und auch sonst eine sehr berühmte und berüchtigte Figur des öffentlichen Lebens. Er war von hohem Adel und involviert in die Politik seiner Zeit, wobei er zwischen eher konservativen und sehr liberalen Ansichten changierte. Auch sprach er sich schon für eine Art europäisches Bündnis aus, lange bevor solche Ideen salonfähig wurden. Er schrieb sehr viele Briefe und bewahrte von allem Duplikate auf, sodass es wohl niemanden aus jener Zeit gibt, von dem so umfassende schriftliche Zeugnisse vorliegen. Er soll – neben Heinrich Heine – der beste Stilist der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert gewesen sein. Er hatte Kontakt zu nahezu allen Intellektuellen, die sich in seiner Reichweite befanden. Und er war Vorlage für manche Romanfigur, unter anderem in Die Pickwickier von Charles Dickens.

Pückler brachte außerdem die englische Gartenkunst nach Deutschland. Seine Gärten waren Wallfahrtsorte für Gartenliebhaber, das Buch, das er über Gartenkunst herausgab, ein Standardwerk.

Aber Pückler hatte noch viele andere Seiten. Er war umtriebig, reiste nicht nur durch Europa, sondern auch jahrelang durch den Orient und Afrika. Er war verschwenderisch, ständig pleite, und verbrachte daher auch vergeblich Jahre auf der Suche nach einer reichen Partie, die seinen Schuldenberg tilgen sollte. Dafür ließ er sich sogar von seiner wohl geliebten, wenn auch ununterbrochen betrogenen Frau Lucie scheiden, mit der er aber trotzdem weiter zusammenlebte. Sie hatte eher die Rolle einer mütterlichen Freundin inne. Pückler hatte Humor, der allerdings ein bisschen „drüber“ sein konnte, wie man heute sagen würde. Legendär war wohl eine Feier, die er selbst veranstaltete und versteckt beobachtete, und bei der er die entsetzten Gäste durch Provokateure glauben ließ, sie würden auf Leichentüchern dinieren und Tote essen.

Mir gefällt der Stil sehr gut, in dem die Biografie von Ohff verfasst wurde. Sie liest sich leicht und locker und oft auch humorvoll – fast so, als hätte der Stil des Schriftstellers Pückler im Biografen gut hundert Jahre später nachgewirkt. Mir hat auch gefallen, dass Ohff mit Sympathie an seinen durchaus nicht in allen Punkten sympathischen und aus heutiger Sicht sicher auch sehr schwierigen Forschungsgegenstand herangeht (ich sage nur: Affären mit sehr jungen Mädchen), ohne dessen Fehler kleinzureden oder zu verschweigen. Hier hatte er wohl viel Schützenhilfe von Pückler selbst, der – wie es im Buch mehrfach heißt – der schärfste Kritiker seiner selbst gewesen sei. Ohff zeichnet mit vielen, aber nicht zu vielen Details ein lebendiges Bild Pücklers; dabei lässt er auch manches weg, zum Beispiel viele der sehr, sehr, sehr zahlreichen Liebschaften. So entfaltet sich ein interessantes und durchaus unerwartetes Stück preußischer Geschichte, geprägt von einem Charakter irgendwo zwischen Byron (von Pückler sehr verehrt) und Casanova – und eben nicht von Pickelhauben und steifem Protestantismus.

Ich habe mich beim Lesen gut amüsiert und mir gedacht: Ach, den Pückler hätte ich gern mal kennengelernt.

Warum hat man ihn seitdem vergessen? Er passt wohl in seiner Exzentrik nicht ins 19. Jahrhundert in Preußen. Und man nahm ihm – schreibt Ohff – wohl auch seine Sympathie für Juden übel, besonders natürlich ab 1933.

Die Biografie wurde übrigens schon 1991 veröffentlicht und beklagt unter anderem, dass der Muskauer Park, den Pückler als ersten anlegte, im polnischen Teil – die Neiße und damit die Grenze DDR–Polen verlief mitten hindurch – verwilderte. Seit der Wende gibt es aber ein deutsch-polnisches Gemeinschaftsprojekt, das den Garten wieder aus seinem Dornröschenschlaf weckt. Pückler hätte das bestimmt gefreut.

Gelesen: Zuversicht von Katharina Afflerbach

Untertitel: Wahre Geschichten vom Weitermachen und Wachsen in schwierigen Zeiten

Nicht jedes Buch, das ich lese, findet seinen Weg hierher in den Blog. Dieses jedoch hat mich auf besondere Weise berührt. Es war ein Zufallsfund aus der Stadtbücherei.

Katharina Afflerbach, die nach einer Karriere in der Wirtschaft ins Coaching wechselte, erzählt von ihren persönlichen Erfahrungen mit Krisen, Verlusten und Neuanfängen und davon, wie sie daran gewachsen ist. Sie schreibt offen, verschweigt weder Umwege noch Fehler und zeigt so ein authentisches, ungeschöntes Bild ihres Weges.

Eingewoben in ihre eigenen Schilderungen sind die Geschichten von 17 weiteren Menschen, die ebenfalls mit dem Themen Weitermachen und Wachsen konfrontiert waren. Manche Erlebnisse sind vielen vertraut wie eine berufliche Neuorientierung, eine Trennung. Andere gehen tiefer unter die Haut: Flucht, lebensbedrohliche Krankheiten, Sucht. Besonders berührt hat mich die wertschätzende und nicht wertende Haltung, mit der Afflerbach diesen Menschen begegnet. Sie dankt ihnen ausdrücklich für das, was sie von ihnen lernen durfte, und lässt uns Leserinnen und Leser daran teilhaben.

Eines der zentralen Themen des Buches ist die Erkenntnis, dass das Leben nicht immer fair ist. Es hält Schmerz, Ungerechtigkeit und auch eigene Fehler bereit. Doch ebenso zeigt es, dass wir innere Ressourcen entwickeln können, um damit umzugehen – dass wir uns gegen Zumutungen von außen wehren, uns selbst verzeihen und Veränderungen anstoßen können.

Die Geschichten machen sichtbar, woher Menschen ihre Kraft ziehen: aus der Liebe zur Familie, aus der Natur, aus Spiritualität oder dem Glauben an Gott.

Mich hat das Buch bewegt. Manchmal habe ich mit feuchten Augen gelesen. Und es hat mich dazu gebracht, auf mein eigenes Leben zu schauen – eines ohne dramatische Katastrophen, aber wie wohl jedes Leben mit seinem Anteil an Herausforderungen, radikalen Wendepunkten und dunklen Tälern.

Rückblickend denke ich: Ja, ich habe Fehler gemacht, manches hat lange gedauert. Aber ich habe auch vieles richtig gemacht. Sonst wäre ich heute nicht so zufrieden mit mir und meinem Leben.

Nett zu sich sein

Ich beschäftige mich gerade wieder ein bisschen damit, wie der Umgang mit dem eigenen Körper sich auf die Psyche auswirkt, und lese dazu ein schönes Einstiegsbuch (Zuhause im eigenen Körper von Sabine Ecker). Irgendwie auch ein bisschen doof, ich weiß ja eigentlich alles, habe auch jahrelang Tai Chi und Yoga gemacht… aber dann schleicht sich doch wieder viel Wissen aus im Alltag.
Nun denn, ab September werde ich mal wieder einen Yogakurs machen. Und bis dahin auch ein paar mehr Übungen aus dem Büchlein. Wobei ich auch sonst versuche, nett zu meinem Körper zu sein: gutes Essen, viel Bewegung, nicht zu viel Stress und genug Schlaf. Und atmen!
Auch und gerade dann, wenn die Psyche mal etwas ruckelig unterwegs ist (Wechseljahre), ist die Konzentration auf solche Basics einfach zentral.

„Nett zu meinem Körper sein“ klingt natürlich etwas merkwürdig, da ich ja mein Körper bin, sozusagen die Hardware und Software in einem. Aber wenn man sich das Geistige und Körperliche schon getrennt vorstellt, wie es ja auch in unserer Kultur recht üblich ist, dann sollte man auch denken: Mein Körper ist nun mal meine Partnerin, solange ich lebe.

Wenn man seinen Körper dagegen die ganze Zeit kacke findet, weil er nicht schön oder stark genug ist, ihn mit Junkfood und Bewegungsunfähigkeit oder Suchtmitteln misshandelt, ihn stresst und quält – wieso sollte er dann nett zu einem sein und ständig glücklich machende Hormone ausschütten und gesund und schmerzfrei bleiben?

Manche haben schon eine echt toxische Beziehung mit sich selbst.

Hitzewelle

Heute und morgen soll die große Hitzewelle kommen. Ich fand es schon die letzten Tage ziemlich heiß und bin froh, dass es hier im Odenwald ein paar Grad kühler ist als in der Rheinebene – vor allem in den Städten.
Ich gönne mir, wenn mir das Hocken in der Verdunklung zu viel wird, den Luxus eines Ventilators auf der Terrasse und hatte selten in einem Sandalensommer so saubere Füße… sie stecken nämlich ständig in einer Schüssel mit kaltem Wasser.

Morgens laufe ich früh meine Runde durch den Wald, bevor es zu heiß wird (siehe Bilder), und versuche auch sonst, alles am Vormittag zu erledigen, soweit es geht. Ich schlafe wenig: Abends ist es mir zu warm, und morgens piepsen mich die Vögel durch die geöffneten Fenster früh heraus. Aber im Sommer brauche ich wenig Schlaf.

Unbeschwerte Sommerlaune habe ich aber nicht gerade. Ich denke, eben auch wegen dieser frühen Hitzewelle, über Klimawandel, Artensterben und Umweltzerstörung nach.
Gestern habe ich eine Diskussion zwischen einer jungen Kollegin und zwei konservativen Amtsträgern darüber mitgehört, ob man den Klimawandel – sagen wir es mal salopp – sportlich nehmen soll, im Sinne von: Dann haben wir halt Klima wie am Mittelmeer, ist doch auch schön, und bauen eben höhere Dämme.
Oder ob es angemessen, ja nötig ist, Angst zu haben, so wie es FfF oder die Letzte Generation artikulieren. Oder ob man sich lieber auf das konzentriert, was man konkret tun kann.

Ich selbst kann das Thema nicht leicht nehmen. Ja, klar, Italien-Klima in Deutschland, meinetwegen. Aber was ist mit den Menschen in Italien? Was mit denen in Marokko? Was mit denen in der Sahelzone?
Ich kann aber die Leute verstehen, die sagen: Angst ist vielleicht angemessen, aber wenn sie lähmt, bringt sie nichts, im Gegenteil. Lieber schauen, was man selbst vor Ort tun kann, und auch mal die positiven Seiten eines klimabewussteren Lebensstils hervorheben. Da kann ich durchaus mitgehen. Solarpunk.

Ich selbst habe keine Angst vor dem, was kommt. Ich bin eher traurig (und froh, keine Kinder zu haben) und habe gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, weil ich zwar schon ein paar Dinge tue, um nicht ganz so viel Schaden anzurichten auf der Welt, aber vieles eben auch nicht. Und gleichzeitig fühle ich mich hilflos, denn ich weiß: Ich kann noch 1.000 Blöcke Tofu fressen, das wird das Klima und das Artensterben nicht ändern.
Andererseits will ich versuchen, wenigstens ansatzweise das zu tun, was ich für richtig halte. Und da erkenne ich auch den Pragmatismus eines Konservativen an, der sich für Windräder, PV-Anlagen und Stadtradeln einsetzt.

Das ist es ja, was mir auch die Freude an Mastodon und Bluesky inzwischen etwas vergällt. Klar, die rechten Schreihälse, die ständig gegen Ausländer, queere Menschen oder Grüne grölen, sehe ich dort so gut wie nicht.

Aber ich empfinde auch eine gewisse „Das ist alles so schrecklich, so schlimm!“-Grundstimmung, der – nehme ich mal schwer an – kein entsprechendes Engagement entgegensteht. Dazu geht mir eine gewisse Selbstgerechtigkeit auf den Keks. Ich habe das ja schon seit Jahren immer wieder gehört, dass das der große Makel der linksorientierten Menschen sei, und fragte mich immer: Was meint man genau damit?

Inzwischen weiß ich es. Da werden, habe ich das Gefühl, teilweise die Sub-unter-klein-Bubbles so exklusiv und adelig, dass jede*r, der irgendwie anders denkt oder handelt (auch wenn 95 % übereinstimmen), gleich ein Faschist, Arschloch oder sonstwas ist.

Erst vor kurzem hat mir irgendein selbstgerechter Herr erklärt, wie hirngewaschen ich sein muss, wenn ich hier in unserer Dorf-Parteienlandschaft überall vernünftige und nette Menschen entdecken kann, ja, auch bei Konservativen. Ganz ehrlich: Das ist mir zu blöd.

Nun denn. Ich glaube aber, jetzt zur Sommer- und Urlaubszeit muss ich auch mal solche deprimierenden Themen etwas außen vor lassen. Die Hormonachterbahn schlingert eh gerade wieder herum, und ich brauche nicht noch mehr Weltschmerz.

Daher habe ich – ganz gegen meine Gewohnheit – zwei angefangene Bücher erst mal wieder zur Seite gelegt:
Eva Menasses Roman „Dunkelblum“ über ein deprimierendes österreichisches Dorf mit Nazi-Vergangenheit und „Die Welt ohne uns“ von Alan Weisman.
In Letzterem geht es darum, wie sich die Erde verändern würde, wenn die Menschheit plötzlich verschwände.
Den Gedanken finde ich zwar weniger deprimierend, sehr wohl aber die Tatsache, wie unser dunkles Erbe von Plastikmüll über Ewigkeits-Chemikalien bis hin zu CO₂ auch eine Welt ohne uns noch viele, viele Jahre negativ prägen würde. Seufz.

Ich glaube, ich werde mal ganz bewusst ein bisschen Weltflucht betreiben. Habe in der Stadtbücherei einen Murakami gefunden und in einem öffentlichen Bücherregal einen Kluftinger-Krimi.

Gelesen: Salman Rushdie – Quichotte

Ich muss gestehen, dass ich nicht allzu viele Bücher von Rushdie gelesen habe – und nicht alle, die ich begonnen habe, auch zu Ende. Aber eines meiner allerliebsten Bücher stammt aus seiner Feder: Der Boden unter ihren Füßen. Und auch in Quichotte habe ich etwas gefunden, das Bücher, die ich besonders mag, für mich auszeichnet: die Stimmung.

Denn: Bücher können eine tolle Botschaft haben, eine fesselnde, spannende Handlung, lustig oder lehrreich sein. Sie können durch einen geschickten Aufbau faszinieren oder eine besondere Sprache haben. Aber ich schließe Bücher besonders dann ins Herz, wenn sie eine besondere Stimmung hervorrufen, wenn sie in mir ein Echo wecken auf das, was auch auf den gedruckten Seiten passiert.

Das ist bei einigen Büchern von Margaret Atwood der Fall (first and last and always <3), aber eben auch bei Der Boden unter ihren Füßen – und jetzt auch ein wenig bei Quichotte.

Die Geschichte in Quichotte bewegt sich auf zwei Ebenen, die immer mehr ineinander übergehen.

Da ist zum einen die Romanfigur Quichotte: ein älterer Mann mit indischen Wurzeln, besessen vom Fernsehen, und nur sehr lose mit der Realität verbunden. So kommt es, dass er sich in eine Talkshow-Moderatorin verliebt und sich einbildet, zu ihr reisen zu müssen. Auf dem Weg dorthin erscheint plötzlich sein Sohn Sancho, der einfach aus dem Nichts auftaucht. Sancho merkt, dass sie sich in einer fiktionalen Realität befinden, dass nicht alles so ist, wie es sein müsste.

Parallel dazu gibt es den indischstämmigen Autor, der bisher eher schnell konsumierbare Agentenromane geschrieben hat und mit Quichotte nun etwas Ernsthaftes wagen will. Die beiden Erzählebenen verschmelzen zusehends. Es geht um Schuld und Reue, um Krankheit und Tod.

Und das Ganze spielt im 2019 erschienenen Buch in einer Welt, die sich zunehmend surreal anfühlt. Dieses Gefühl, dass die Realität ausfranst, dass ständig Dinge geschehen, die einfach nur irre sind… Ich meine: dieser US-Präsident? Ehrlich jetzt?

Gleichzeitig spart Rushdie nicht mit Überraschungen und greift Themen von der Opioidkrise über Rassismus bis hin zu Science-Fiction auf, die er gekonnt in die Geschichte einwebt.

Auf jeden Fall ein schönes, kurzweiliges Buch, das den Grundton „Die Welt ist irre geworden“ lange nachhallen lässt.

Psycho-logisch

Ein, ja was, Hobby oder Spleen oder einfach nur großes Interesse von mir ist die Psychologie. Ich habe mich damit schon in der Jugend zu befassen begonnen, im Studium Psychologie als Nebenfach im Magisterstudium gewählt (mein Hauptfach war Politik). Ich hatte angesichts des Interesses natürlich auch erwogen, Psychotherapeutin zu werden, aber ich hatte schon im jungen Erwachsenenalter genug Erfahrungen mit den psychischen Problemen meiner Mitmenschen (und meinen erfolglosen Versuchen, da positiv zu intervenieren) gesammelt, um davon Abstand zu nehmen („Nicht auch noch als Arbeit“, dachte ich damals).

Was so zurzeit in meinem Psychologie-Regal herumsteht und -liegt.

Das hielt mich nicht davon ab, viele Bücher über Psychologie zu lesen. Ich habe das Gefühl, dass mir das dabei hilft, mich selbst und andere besser zu verstehen, und ich habe auch gelernt, Methoden anzuwenden, die mir und meinem sozialen Umfeld helfen, Stichwort – mal wieder – Acceptance- und Commitment-Therapie, mein Favorit. (Eine Therapie habe ich dagegen nie gemacht.) Früher las ich auch gerne Erfahrungsbericht oder Bücher aus dem Bereich Anti-Psychiatrie.

Ich las auch mit mal mehr, mal weniger Faszination einige Klassiker. Manche sind natürlich besser, manche schlechter gealtert, und bei einigen Dingen – Stichwort Männer- und Frauenrollen – muss man bei manchem alten Buch Abstriche machen.

Die Grundformen der Angst von Fritz Riemann kann ich dennoch uneingeschränkt empfehlen, Viktor Frankls „Trotzdem JA zum Leben sagen“ natürlich auch, von Alfred Adler habe ich vor vielen Jahren schon gerne „Menschenkenntnis“ und weiterer Werke gelesen. Auch moderne Klassiker habe ich mit Gewinn durchgearbeitet – Stefanie Stahls „Das Kind in dir muss Heimat finden“ beispielsweise und diverse ACT-Bücher, begonnen mit Russ Harris „Wer dem Glück hinterherrennt, läuft daran vorbei“. Und vergessen wir bitte nicht eines der besten, kurzweiligsten und kürzesten Bücher im Bereich Psychologie überhaupt: Paul Watzlawicks „Die Kunst des Unglücklichseins.“ (Das habe ich doppelt, wenn jemand möchte, verschicke ich es gerne.)

Vor einiger Weile hatte ich mich ein bisschen mit dem Thema Drama-Dreieck in der Transaktionsanalyse beschäftigt, ein Konzept, das ich wie so viele andere wirklich augenöffnend fand und das mir einige unproduktive, sich-im-Kreis-drehende Interaktionen treffend erklärte. Also holte ich mir auch „Spiele der Erwachsenen“ von Eric Berne, der als Begründer der Transaktionsanalyse gilt. Aber mit dem Buch wurde ich nicht warm.

Hilfreich finde ich das Bild der verschiedenen Ebenen – Erwachsenen-Ich, Eltern-Ich, Kind-Ich – auf denen kommuniziert wird und welche Auswirkungen es hat oder haben kann, wenn zwei Menschen sich eben nicht auf der Erwachsenen-Ebene austauschen, sondern von oben herab belehren (Eltern-Ich) oder sich verhalten wie ein bockiges Kind. Solche Interaktionen nennt Berne Spiele.

Die einzelnen Spiele, die den Großteil des Buches ausmachen, lassen mich dagegen eher ratlos zurück. Ja, klar kenne ich z.B. gut die fruchtlose Interaktion „Warum nicht – Ja, aber…“, sprich Menschen, die drängende Probleme äußern, aber auf jeden Lösungsvorschlag mit „Ja, aber“ reagieren, also erklären, wieso „das nicht geht“. (Ich versuche daher auch sehr, mit in solchen Konstellationen Vorschläge abzugewöhnen. Nicht leicht, ich gebe doch so gerne Ratschläge.)
Was mich bei den Beschreibungen der Spiele stört, ist zum einen eine störende Antiquiertheit; das Buch ist 1964 das erste Mal aufgelegt worden, und manches, was da beschrieben wird – vor allem im Bereich Partnerschaft und Sexualität – ist, finde ich, aus einer heute unangenehm zu lesenden Macho-Perspektive verfasst (die Frauen, die erst locken und sich dann zieren oder den Mann mit ihrer Mischung aus Frigidität und Sexy-Sein ärgern wollen usw.). Aber auch generell lässt mich das schematische und abkürzungslastige Katalogisieren menschlichen Verhaltens etwas ratlos zurück.
Was mich aber besonders störte, ist ein, wie ich fand, negativer und herablassender Blick auf Menschen und ihre (zugegebenermaßen ja oft nicht allzu produktiven) Interaktionen. Auch gerade bei denen, die eine schwache Position einnehmen, klingt eine Unerbittlichkeit durch, die ja hier und da angemessen sein mag, die ich mir aber von einem Psychotherapeuten, der mich behandelt, nicht gerade wünschen würde.
Da ist zum Beispiel Riemann, obwohl das Buch auch schon alt ist, ganz anders; bei ihm wird deutlich, dass Charakterakzentuierungen im Kontinuum zwischen Durchschnitt und Störung durchaus Vorteile bringen und nicht nur defizitär zu sehen sind.
Dazu kommt auch – was kann ich denn von Bernes Ansatz als Mensch mitnehmen? Gut, durchschauen, wenn ein solches Spiel einsetzt, und nicht mitspielen, weil es nur Kraft und Nerven kostet. Das kann ich aber auch ohne dreiunddrölzig Fallbeispiele schon gut mit dem Drama-Dreieck und der Unterscheidung Erwachsenen-Ich, Kinder-Ich und Eltern-Ich.

Wie seht ihr das, liebe Leser meines Blogs (ihr alle beide :-D)? Welche Psychologiebücher habt ihr ins Herz geschlossen, welche nicht?

Gelesen: Philipp Blom – 1900–1914 und 1918–1938

Wenn mir ein Autor zusagt – in dem Fall Philipp Blom, von dem ich schon das hier und das hier las – hole ich mir gerne noch mehr Bücher. Die letzten Wochen habe ich mit ziemlich viel Vergnügen zwei dicke Werke von ihm gelesen:

„Der taumelnde Kontinent“, Europa 1900-1914
„Die zerrissenen Jahre“, 1918-1938

Der Ansatz von Blom, den ich ja auch schon in einem Buch über die Kleine Eiszeit 1570 bis 1700 so interessant fand, ist ja, nicht die Geschichte von großen Männern und ihren Schlachten zu erzählen. So kommt in dem Buch über die Kleine Eiszeit der Dreißigjährige Krieg, der die Epoche doch so nachhaltig (und Europa bis heute) prägte, nur am Rande vor. Ihm geht es um die großen ideengeschichtlichen und sozialen Veränderungen.

So nun auch in den beiden aneinander anschließenden Werken über die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, die – wie Blom auch betont – eben nicht so gelesen werden sollen, als Vorgeschichte, die unausweichlich in die beiden großen Kriege (bzw. den Dreißigjährigen Krieg 1914–1945) mündete. Sondern er zeichnet auch dort wieder auf, was diese Phasen prägte.

Er beschreibt im ersten Band, der mir persönlich etwas besser gefallen hat, wie rasant die Entwicklung der Moderne um 1900 herum war. Eine Phase, die später als „die gute alte Zeit“ verklärt wurde, war in Wirklichkeit eine, in der große Unsicherheit herrschte – auch und vor allem bei den Männern. Heute würde man es wohl als fragile Männlichkeit bezeichnen, was damals überhand nahm. Muskelkraft war nicht mehr gefragt, Maschinen machten jeden Bizeps lächerlich.
Waren vorher Nervenkrankheiten eine weibliche Domäne („Hysterie“), so ergriff die Neurose nun auch die Männerwelt. Die Figuren von Manns Zauberberg spiegeln das ebenso wider wie der genial-nervöse Kafka.
Suffragetten gingen auf die Straßen und forderten Wahlrecht. Und alles wurde rasanter – die ersten Rennwagen flitzten herum, Kommunikation wurde schneller, Kunst trieb neue und expressionistische Blüten, das Kino kam auf.
Manche Männer reagierten darauf mit Rückzugsgefechten, wollten zurück zur vermeintlich starken Männlichkeit früher. Völkisches Denken keimte in diesem Nährboden ähnlich gut wie Okkultismus und archaische Rituale. Nie wurde sich so viel duelliert.
Selbst der heldenhafte Krieger, der mit gezücktem Säbel den Feind niedermacht, wurde dann im Ersten Weltkrieg vollends in den Schützengräben ad absurdum geführt. Ohne je einen feindlichen Soldaten leibhaftig zu Gesicht zu bekommen, starb man da im Granatenhagel. Das Ganze war so traumatisch, dass viele Männer als „Kriegszitterer“ heimkehrten – die Nerven zerrüttet.

Damit setzt der zweite Band ein. Er zeigt Europa und Nordamerika in einer zentrifugalen Bewegung. Da treten Frauen, treten Schwarze Menschen immer mehr in die Öffentlichkeit; Jazz ist der Soundtrack jener Zeit. Die moderne Physik stellt das Weltbild der Menschen infrage, Flugzeuge überqueren den Atlantik. In den „Goldenen Zwanzigern“ wird in Berlin exzessiv gefeiert, während sich Nazis und Kommunisten in den Straßen verprügeln und ermorden.
Auch anderswo sind die autoritären und undemokratischen Kräfte auf dem Vormarsch. Mussolini lässt sich in Italien verehren, in Spanien tobt der Bürgerkrieg, in Deutschland kommt die NSDAP an die Macht, auch Österreich ist schon vor dem „Anschluss“ autoritär. Unter Stalin werden Millionen als „Konterrevolutionäre“ oder „Kulaken“ ermordet; schrecklich die Schilderungen vom Holodomor in der Ukraine, in dem mehrere Millionen Menschen auf Stalins Befehl in den Hungertod getrieben wurden.

Die großen ideengeschichtlichen und sozialen Veränderungen illustriert Blom mit einem bunten Strauß an Beispielen, die von Politik über Philosophie, von der modernen Wissenschaft, großer Kunst bis hin zu Einzelschicksalen und Populärkultur reichen. Ich kann mit einer solchen bunten Collage viel anfangen, sie erinnerte mich hier und da auch ein kleines bisschen an Bill Brysons 1927. Manchmal war aber – vor allem im zweiten Band – ein roter Faden nur noch schwer auszumachen.

Was mich an den Büchern Bloms so fasziniert, ist, wie leicht lesbar sie daherkommen und mit ihrem Kaleidoskop an Eindrücken einen neuen und lebendigen Einblick in die Geschichte gewähren. Ich las es und dachte oft: Ah, jetzt verstehe ich das endlich!

Auf jeden Fall sehr spannende und fundierte Einblicke in eine Zeit, die manchmal auch ganz unheimlich an unsere erinnert…

Gelesen: Philipp Blom, Was auf dem Spiel steht

Das Buch fügt sich gut an das zuvor von mir gelesene Werk desselben Autors an, Die Welt aus den Angeln. Dieses behandelt die „kalten Jahrhunderte“ rund um den Dreißigjährigen Krieg und zeigt, wie sich die Gesellschaft in Europa in jener Zeit – auch durch den Klimawandel – grundlegend veränderte. Was auf dem Spiel steht ist gewissermaßen eine ausführlichere Version des Nachworts dieses historischen Werks, das den Bogen in die Gegenwart schlägt.

Was auf dem Spiel steht ist ein Essay, allerdings über 200 Seiten lang. Darin legt Blom ausführlich (und hin und wieder ein klein wenig redundant) dar, wie sich aktuelle globale Herausforderungen – vorrangig Klimawandel, Digitalisierung (mit dem Wandel der Arbeitswelt) und überbordender Konsum – auf die politische Landschaft auswirken. Er fasst diese Entwicklungen in einer Dichotomie zwischen Liberalismus und Autoritarismus zusammen, meiner Meinung nach heutzutage eine treffendere Unterscheidung als rechts gegen links. Dabei erklärt er, warum nach 1989 nicht – wie von manchen erwartet – das „Ende der Geschichte“ und der ungebrochene Siegeszug des Liberalismus eintrat, sondern stattdessen autoritäre Kräfte wieder an Einfluss gewinnen, selbst in Staaten wie den USA und auch in Europa.

Blom stellt die Frage: Warum wollen Menschen sich wieder einmauern und Festungen errichten? Woher kommt all die Angst, wenn wir doch angeblich in der besten aller liberalen Welten leben?

Er analysiert, meiner Meinung nach sehr treffend, die Geburtskrankheit des Liberalismus: Er basiert auf freien Märkten, hat sich aber immer mehr zum Diener „des Marktes“ gemacht. Dieser Liberalismus kann jedoch viele der heute drängenden Probleme nicht lösen – nicht den Klimawandel, nicht die Tatsache, dass ein wachsender Teil der Menschen als Arbeitnehmer durch Automatisierung und Digitalisierung überflüssig wird, nicht die extreme Ungleichverteilung von Vermögen (der frühe Kapitalismus basierte nicht umsonst auf Sklavenarbeit und Ausbeutung), und auch nicht die Zerstörung der Umwelt durch unseren (Über-)Konsum.

Blom wählt dafür ein eindrückliches Bild: das des Hefepilzes, der in einer Zuckerlösung so lange Zucker in Alkohol umwandelt, bis die Alkoholkonzentration ihn selbst tötet.

Wir sind dieser Hefepilz.

Gleichzeitig stellt er fest, dass in unseren westlich-liberalen Gesellschaften viele der sogenannten „liberalen Werte“ nur noch Fassade sind. Entscheidungen werden anderswo getroffen („der Markt“), die Bürgerinnen und Bürger werden zu Konsumentinnen und Konsumenten reduziert. Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert – man denke an die Bankenrettungen nach der Finanzkrise 2008 ff. Und dennoch! Da ist die liberale Vision von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, immer noch wertvoll, immer noch erstrebenswert.

Dem gegenüber stellt Blom die autoritäre Vision: eine Zukunft, die verdrängt wird, weil man sich mit den realen Problemen nicht beschäftigen will. Stattdessen träumt man von einem vermeintlich besseren Gestern, das man zu rekonstruieren sucht – und um dieses zu schützen, baut man Mauern und schließt andere aus. Was Blom beschreibt, lässt sich 2025 in den USA sehr deutlich beobachten. Besonders interessant fand ich Bloms Gegenüberstellung des „liberalen Traums“ und des „autoritären Traums“.

Blom schreibt angenehm lesbar, literarisch statt trocken-akademisch, und streut immer wieder Humor und Sarkasmus ein (der Hefepilz!).

Sein Fazit ist im Grunde düster: Die Probleme werden nicht angegangen, nicht gelöst – und die Folgen werden katastrophal sein, unabhängig davon, welchem Gesellschaftsideal man anhängt. Und doch: Als Hoffnungsschimmer entwirft er eine fiktive Wendung, in der plötzlich ein kollektives Aha-Erlebnis einsetzt – alle verstehen, was los ist, und beginnen sofort, ihr Verhalten zu ändern: beim Konsum, bei der Energiegewinnung, bei allem.

Und, Überraschung: Eine Gesellschaft mit weniger Konsum, weniger Werbung, vielleicht auch weniger Arbeit muss gar nicht so schrecklich sein.

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