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Kategorie: Lesen, lesen

Zurück in die Zukunft

Ich reagiere auf die für mich immer größer werdenden Zumutungen der digitalen Welt – Hab ein Smartphone, sei ununterbrochen online! Lass dich in Social Media mit oberflächlichen Kurzmeldungen in den Wahnsinn treiben! – zunehmend mit Reaktanz. Und so habe ich in letzter Zeit wieder mehr Lust auf intelligente Bücher. Da ich mir nicht alle kaufen kann und ich sie auch nicht immer zufällig in meinem öffentlichen Bücherregal oder in den dörflichen KÖBs finde, bin ich mal wieder in die nächste Kleinstadt, nach Weinheim, gefahren und habe nach vielen Jahren meinen Ausweis in der Stadtbibliothek erneuern lassen. Konkreter Anlass war, dass ich unbedingt den dritten Band der Philosophiegeschichte des 20. Jhds von Wolfgang Eilenberger lesen wollte – der aber nur als teures Hardcover verfügbar ist und so weiter.

Mit der Weinheimer Stadtbibliothek verbinde ich viele Erinnerungen. Ich besuche sie seit meinem 15. oder 16. Lebensjahr; damals hatte ich dort auch ein Schulpraktikum gemacht („was mit Büchern“).

Ab 1999 lebten wir einige Jahre in der Kleinstadt, und auch in dieser Zeit ging ich oft dorthin – zum Lesen oder um an meiner Dissertation zu arbeiten. Nachdem ich 2010 einen Heimatkrimi veröffentlicht hatte, hielt ich dort sogar mal eine kleine (und wenig besuchte) Lesung.

Eine sehr nette Bibliothekarin meldete mich erneut an, und meine Karte mit der niedrigen Nummer durfte ich behalten. Sie erklärte mir, dass sich die Romane jetzt im ersten Stock befinden. Eine Kollegin erkannte mich noch und grüßte freundlich. Die Jahresgebühr beträgt 17 Euro – dafür kann man aber auch elektronische Medien ausleihen, darunter viele Zeitschriften. Ich habe zum Lesen zwar lieber Papier in der Hand, aber eine Zeitschrift schaue ich mir durchaus mal auf dem Bildschirm an.

Auch wenn etwas umgeräumt wurde – der Anblick ist mir doch gleich vertraut: die Bilder in den Treppenhäusern, die Möbel. Für mich strahlt das Ruhe aus, in der Gegenwart von Büchern fühle ich mich eh wohl. Ich werde wieder häufiger herkommen.

Gelesen: Ijoma Mangold, „Das Deutsche Krokodil. Meine Geschichte“ (2017)

Wer weiß, vielleicht bin ich dem Autor dieses Buches schon mal irgendwo in den Altstadtgassen Heidelbergs begegnet. Denn er ist nur zwei Jahre älter als ich und verbrachte Kindheit und Jugend in Dossenheim, besuchte dann ein Gymnasium in Heidelberg – und dort war ich als jugendliche Nachtschwärmerin und später als Studentin natürlich auch unterwegs.

In seinen Lebenserinnerungen geht es zum einen um seine Herkunft. Sein Vater stammte aus Nigeria, kehrte auch früh dorthin zurück, sodass Mangold bei seiner Mutter aufwuchs, einer Kinder- und Jugendtherapeutin. Er erlebte seine frühen Jahre in einer zwar nicht allzu wohlhabenden, aber bildungsbürgerlichen und toleranten Umgebung. Mit seiner Hautfarbe in negativer Weise massiv konfrontiert worden sei er so auch erst 2014, als er in seiner Rolle als Literaturkritiker ein Buch von Akif Pirinçci verriss und daraufhin von dessen Fans rassistisch beleidigt wurde.

So ist das Thema Hautfarbe und Fremdsein auch die meiste Zeit eher untergründig in dem Buch; als Außenseiter fühlte sich Mangold als Junge eher, weil er Thomas Mann las und Klassik hörte, nicht wegen der dunkleren Haut.

Es geht im Buch viel um typische Kinder- und Jugenderinnerungen aus den 70ern bis 90ern, aber auch um die Suche nach (und das Fremdeln mit) der afrikanischen Verwandtschaft als junger Mann. Schön beschrieben fand ich den Umstand, wie wir Vergangenes erinnern – dass gerade die typischen Anekdoten so oft erinnert und erzählt wurden, dass die wahre Geschichte dahinter verblasst und schwer greifbar wird.

Ich habe das Buch mit Vergnügen gelesen. Was es mit dem „deutschen Krokodil“ auf sich hat, findet man als Leser übrigens auch heraus.

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