Lesen, Wandern, Palavern

Kategorie: Lesen, lesen

Gelesen: Philipp Blom, Was auf dem Spiel steht

Das Buch fügt sich gut an das zuvor von mir gelesene Werk desselben Autors an, Die Welt aus den Angeln. Dieses behandelt die „kalten Jahrhunderte“ rund um den Dreißigjährigen Krieg und zeigt, wie sich die Gesellschaft in Europa in jener Zeit – auch durch den Klimawandel – grundlegend veränderte. Was auf dem Spiel steht ist gewissermaßen eine ausführlichere Version des Nachworts dieses historischen Werks, das den Bogen in die Gegenwart schlägt.

Was auf dem Spiel steht ist ein Essay, allerdings über 200 Seiten lang. Darin legt Blom ausführlich (und hin und wieder ein klein wenig redundant) dar, wie sich aktuelle globale Herausforderungen – vorrangig Klimawandel, Digitalisierung (mit dem Wandel der Arbeitswelt) und überbordender Konsum – auf die politische Landschaft auswirken. Er fasst diese Entwicklungen in einer Dichotomie zwischen Liberalismus und Autoritarismus zusammen, meiner Meinung nach heutzutage eine treffendere Unterscheidung als rechts gegen links. Dabei erklärt er, warum nach 1989 nicht – wie von manchen erwartet – das „Ende der Geschichte“ und der ungebrochene Siegeszug des Liberalismus eintrat, sondern stattdessen autoritäre Kräfte wieder an Einfluss gewinnen, selbst in Staaten wie den USA und auch in Europa.

Blom stellt die Frage: Warum wollen Menschen sich wieder einmauern und Festungen errichten? Woher kommt all die Angst, wenn wir doch angeblich in der besten aller liberalen Welten leben?

Er analysiert, meiner Meinung nach sehr treffend, die Geburtskrankheit des Liberalismus: Er basiert auf freien Märkten, hat sich aber immer mehr zum Diener „des Marktes“ gemacht. Dieser Liberalismus kann jedoch viele der heute drängenden Probleme nicht lösen – nicht den Klimawandel, nicht die Tatsache, dass ein wachsender Teil der Menschen als Arbeitnehmer durch Automatisierung und Digitalisierung überflüssig wird, nicht die extreme Ungleichverteilung von Vermögen (der frühe Kapitalismus basierte nicht umsonst auf Sklavenarbeit und Ausbeutung), und auch nicht die Zerstörung der Umwelt durch unseren (Über-)Konsum.

Blom wählt dafür ein eindrückliches Bild: das des Hefepilzes, der in einer Zuckerlösung so lange Zucker in Alkohol umwandelt, bis die Alkoholkonzentration ihn selbst tötet.

Wir sind dieser Hefepilz.

Gleichzeitig stellt er fest, dass in unseren westlich-liberalen Gesellschaften viele der sogenannten „liberalen Werte“ nur noch Fassade sind. Entscheidungen werden anderswo getroffen („der Markt“), die Bürgerinnen und Bürger werden zu Konsumentinnen und Konsumenten reduziert. Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert – man denke an die Bankenrettungen nach der Finanzkrise 2008 ff. Und dennoch! Da ist die liberale Vision von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, immer noch wertvoll, immer noch erstrebenswert.

Dem gegenüber stellt Blom die autoritäre Vision: eine Zukunft, die verdrängt wird, weil man sich mit den realen Problemen nicht beschäftigen will. Stattdessen träumt man von einem vermeintlich besseren Gestern, das man zu rekonstruieren sucht – und um dieses zu schützen, baut man Mauern und schließt andere aus. Was Blom beschreibt, lässt sich 2025 in den USA sehr deutlich beobachten. Besonders interessant fand ich Bloms Gegenüberstellung des „liberalen Traums“ und des „autoritären Traums“.

Blom schreibt angenehm lesbar, literarisch statt trocken-akademisch, und streut immer wieder Humor und Sarkasmus ein (der Hefepilz!).

Sein Fazit ist im Grunde düster: Die Probleme werden nicht angegangen, nicht gelöst – und die Folgen werden katastrophal sein, unabhängig davon, welchem Gesellschaftsideal man anhängt. Und doch: Als Hoffnungsschimmer entwirft er eine fiktive Wendung, in der plötzlich ein kollektives Aha-Erlebnis einsetzt – alle verstehen, was los ist, und beginnen sofort, ihr Verhalten zu ändern: beim Konsum, bei der Energiegewinnung, bei allem.

Und, Überraschung: Eine Gesellschaft mit weniger Konsum, weniger Werbung, vielleicht auch weniger Arbeit muss gar nicht so schrecklich sein.

Gelesen: Fühl dich ganz von Lukas Klaschinski

Auf das Buch bin ich aufmerksam geworden, weil es in einer Radiosendung erwähnt wurde. Der Untertitel lautet: „Was wir gewinnen, wenn wir unsere Emotionen verstehen und zulassen“. Ich hatte es mir gebraucht besorgt und recht schnell durchgelesen.

In dem Buch beschreibt der Psychologe Klaschinski, wie er selbst einen besseren Zugang zu seinen Emotionen fand. Rahmenhandlung ist ein Dunkel-Retreat, bei dem er sich intensiv mit seinen Gefühlen auseinandersetzt. Er illustriert seinen Weg zu mehr emotionaler Offenheit mit persönlichen Erlebnissen.

Daran habe ich mich anfangs ein bisschen gestoßen, ehrlich gesagt – nicht am Vorgehen generell, sondern eher daran, dass ich mich im Leben eines jungen Mannes irgendwo zwischen Kite-Surfen in Südafrika und Klippenspringen in ich-weiß-nicht-wo nicht so ganz wiederfand. Später folgen dann aber andere Beispiele aus dem persönlichen Leben, die ich besser nachvollziehen konnte.

In jedem Kapitel behandelt er ein bestimmtes Gefühl – wie Wut, Scham, Liebe oder Angst – intensiver und beschreibt, wie wir diesen Gefühlen, auch den positiven, oft ausweichen oder sie wegdrücken, bis wir sie nicht mehr ignorieren können und Probleme bekommen. Entweder, weil wir sehr viel Energie in das Unterdrücken der Gefühle stecken müssen oder, weil wir anfangen, wichtige und schöne Dinge im Leben zu vermeiden, nur um unangenehme Gefühle nicht spüren zu müssen.

Klaschinski baut bei seinen Ausführungen auf der mir inzwischen gut vertrauten Acceptance and Commitment Therapy (ACT) auf. Das heißt, es geht darum, ein Gefühl überhaupt erst einmal wahrzunehmen und es dann – ohne es verändern zu wollen – zu akzeptieren. Statt zu versuchen, Gefühle oder Gedanken wegzudrücken, distanziert man sich etwas von ihnen, um das Heft des Handelns in der Hand zu behalten. Denn wichtig ist nach ACT, seine Werte zu kennen und ihnen gemäß zu handeln – und dabei gegebenenfalls auch Gefühle wie Angst zu akzeptieren.

Ich fand es sympathisch, dass sich der Autor in dem Buch ziemlich „nackt gemacht“ hat, was seinen eigenen Weg angeht. Ich mochte auch, dass er daran erinnert, dass unangenehme Gefühle ihre Berechtigung und ihren evolutionären Sinn haben. Unsere angst- und sorgenfreien Vorfahren endeten schließlich oft im Magen des Säbelzahntigers – und trugen so nicht mehr zur Weitergabe ihrer Gene bei.

Wie hilfreich seine Tipps sind – es gibt auch herunterladbare Trancereisen, die ich aber nicht ausprobiert habe – kann ich schwer einschätzen, weil ich schon recht belesen bin rund um ACT. Ich denke, die Grundprinzipien sind gut erklärt und nachvollziehbar. Ich kann mir gut vorstellen, dass es ein gutes Einstiegsbuch ist für Menschen, die sich mit ACT noch nicht viel beschäftigt haben, aber lernen wollen, sich mehr auf ihre Gefühle einzulassen und mehr nach ihren Werten zu leben.

Ich fand es nicht schlecht, mir diese Dinge wieder einmal in Erinnerung zu rufen.

Gelesen: Philipp Blom – Die Welt aus den Angeln

Ich gehöre ja zu einer Gruppe heimat- und kulturinteressierter Menschen, die als Geopark-Vor-Ort-Begleiter*innen nicht nur kleine Führungen und Vorträge zur Ortsgeschichte, Flora, Fauna, Sagenwelt usw. anbieten – wir forschen auch ein bisschen vor uns hin. (Nebenbei: Wandern und Heimatkunde – ich habe schon mit gut 50 auf ein paar langlebige Hobbys gesetzt, die ich, eine halbwegs gute Gesundheit vorausgesetzt, auch als Rentnerin noch prima betreiben kann.)

Ein Thema bei uns ist auch, wie sich Umweltereignisse – wie etwa die Magdalenenflut von 1342 – auf die (regionale) Geschichte ausgewirkt haben könnten.

Daher hat mich dieses Buch in der Stadtbibliothek gereizt und beim Lesen begeistert. Der volle Titel lautet: „Die Welt aus den Angeln: Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart“ – was, denke ich, auch ein bisschen die zeilenlangen Titel der Werke parodiert, die in jener Zeit erschienen.

Was Blom in dem 2017 veröffentlichten Werk auf gut 250 Seiten (plus die sehr ausführliche Bibliografie) bietet, ist nicht weniger als ein Überblick darüber, wie sich nach der mittelalterlichen Warmzeit während einer schnellen und extremen Abkühlungsphase die heutigen kapitalistischen, säkularen und – mehr oder weniger – demokratischen Ideen und Praxen der Moderne herausgebildet haben. Dabei verknüpft er sehr spannend auch kleine, scheinbar nebensächliche Details, die nicht immer, aber oft mit eben dieser klimatischen Abkühlung zu tun hatten – oder zumindest Hand in Hand gingen.

Da geht es um den Siegeszug des Bieres, das den klimaempfindlicheren Wein ablöste, ebenso wie um die (Vor-)Denker der Aufklärung, die gleichzeitig die Brüderlichkeit der Menschen betonten und dennoch vor der Sklaverei die Augen verschließen konnten. Überhaupt entstand damals nicht nur ein Bürgertum, das in vielen Dingen der starren Feudalherrschaft den Rang ablief, sondern auch das Prinzip „Wirtschaftswachstum durch Ausbeutung“: Die Gewinne, die die Pfeffersäcke in Amsterdam oder Hamburg einfuhren, wurden auf dem Rücken ausgebeuteter Kolonialvölker, Sklaven und einer verarmten Unterschicht im eigenen Land erwirtschaftet.

Das Panoptikum mit seinen bunten Themen war auch sehr kurzweilig zu lesen. Besonders interessant war für mich der lange Epilog, der den Bogen zum Hier und Heute und unserem Klimawandel schlägt – oder besser: zu 2017. Vieles klingt inzwischen fast schon prophetisch, wie etwa die Warnung, dass die aktuellen Entwicklungen immer mehr Menschen global „für das Raunen des autoritären Traums empfänglich machen“ werden.

Blom arbeitet auch sehr deutlich heraus, wie liberale Träume der Aufklärung in einen vergötzten „Markt“ mündeten, dessen neoliberal-kapitalistische Prinzipien inzwischen als quasi-religiöse Dogmen gelten, die nicht hinterfragt oder gar geändert werden dürfen – obwohl sie uns und der Welt angesichts des Klimawandels immer mehr Schaden zufügen.

Gehirnfutter – sehr empfehlenswert!

Gelesen: Haruki Murakami, Erste Person Singular

Ich hatte ja vor Kurzem geschrieben, dass Margaret Atwood meine Lieblingsschriftstellerin ist. Ein weiterer Autor, dessen Bücher ich zu einem großen Teil gelesen und zum überwiegenden Teil auch gemocht habe, ist Haruki Murakami. Er ist wahrscheinlich der im Westen bekannteste zeitgenössische japanische Autor, und sein Stil – eine Art magischer Realismus – ist sehr prägend.
Sagen wir es so: Jeder weiß, was mit kafkaesk gemeint ist, und wer Murakami kennt, würde auch verstehen, was mit murakamiesk gemeint ist. Wie in einem Traum tauchen bei ihm oft völlig irreale und obskure Elemente auf, die mit alltäglichen und logisch aufgebauten Handlungssträngen verschmelzen.

Die Kurzgeschichten in der Sammlung Erste Person Singular tragen nicht alle solche Elemente in sich – in manchen geht es um relativ normale, aber skurrile Details, um die sich eine Geschichte entspinnt. Es geht viel um Zwischenmenschliches, und wie immer taucht viel Musik auf (Jazz und Klassik – aber nein, auch die Beatles).

Ich habe das Buch schnell und mit Vergnügen weggelesen.

Gelesen: Margaret Atwood, „Die Kunst des Kochens und Auftragens“

Kennt ihr Margaret Atwood? Falls nicht, habt ihr meiner Meinung nach die beste lebende Autorin verpasst, die es gibt. Ich liebe die Bücher der Kanadierin, seit ich eine Teenagerin bin. Das erste, das ich las, war Katzenauge, und es ist bis heute eines meiner Lieblingsbücher. Das bekannteste Werk von ihr ist der dystopische Roman Der Report der Magd. Die Bandbreite ihrer Texte ist sehr groß – da gibt es dicke Romane und Short Stories, die manchmal nur wenige Absätze lang sind. Manche Bücher greifen reale historische Ereignisse auf, wie Alias Grace, andere spielen in einer (meist düsteren) Zukunft, wie Oryx und Crake.

Das Buch, das ich nun gelesen habe, beinhaltet eine Reihe von Erzählungen der Autorin – von ersten literarischen Gehversuchen als Teenagerin bis hin zu Geschichten der heute 85-Jährigen, die erst wenige Jahre alt sind. Auch hier haben wir Geschichten, die real sein könnten, scheinbar Unspektakuläres – die Mutter bekommt ein zweites Kind, der Vater hat einen Schlaganfall. Dazwischen finden sich aber auch kurze Geschichten mit SF-Elementen, oft humorvoll: der Fliegenpilz, der den Marsianern die kanadische Geschichte erklärt. Oder es wird makaber wie bei der Hand, die durch den Flur kriecht, auf der Suche nach einem Pendant.

Was ist das Besondere an Atwood? Ich lese sie – zugegeben – nur auf Deutsch, und doch ist es die Sprache, die mich schon immer fesselte. Sie beschreibt ihre Figuren genau, mit spitzer Feder, mit Humor, ja, manchmal auch mit etwas bösem Sarkasmus – und doch mit Einfühlung, mit Verständnis. Atwood kann Sätze schreiben wie Peitschenhiebe.

Und gleichzeitig schafft Atwood in ihren Texten eine Stimmung, die ich schwer beschreiben kann, in der ich mich aber wiederfinde. Ihre Protagonist:innen – zumeist Frauen – sind in der Regel keine Held:innen, keine moralisch oder sonstwie überlegenen Wesen. Sie können einfühlsam sein, intensiv lieben, und völlig ziellos sein und dann wieder spontan und radikal den Kurs wechseln. In den Randfiguren begegnen wir oft dem Typ des etwas schrulligen, aber sympathischen und genialen Mannes – ein Forscher, ein Nerd, ein Wissenschaftler – oder patenten Frauen, die dafür sorgen, dass etwas zusammenhält, der Garten bestellt wird, der Forscher nicht im Wald verloren geht.

Die Stimmung und die Sicht auf die Welt in den Büchern möchte ich so beschreiben:
Stellt euch vor, in einem sommerlichen See schwimmen viele junge Mädchen an einem Ferientag. Manche Autor:innen würden wohl wie von oben auf die Mädchen herabblicken, Muster beschreiben und erläutern, warum welches wohin schwimmt. Andere würden sich fiktiv mitten hinein gesellen, das Planschen beschreiben oder das, was sie sich an Worten zurufen – vielleicht auch etwas unappetitlich von jungen, schlanken Körpern fantasieren. Wieder andere würden sich auf eine verklärte Jugend konzentrieren: der Geruch von Sonnencreme, der Geschmack von Eis am Stiel, Ferienlaune.

Atwood mag all das auch beschreiben. Doch dann taucht sie mit uns nach unten, Richtung Seegrund, wo sich lange Blätter von Wasserpflanzen in der leichten Strömung bewegen, und oben, weit oben, scheint die Sonne auf das Wasser. Und wir sehen die Beine der schwimmenden Mädchen strampeln, und es sieht ein bisschen lächerlich aus und grotesk und zugleich anrührend, denn sie strampeln, um nicht unterzugehen, um nicht abzusinken in die Welt der schweigenden Wasserpflanzen, des Morasts, der Seeungeheuer. Ein heiterer Ferientag? Nein, die Mädchen schwimmen um ihr Leben.

Natürlich ist Atwood Skorpionin als Sternzeichen.

Als ich Teenagerin war, wollte ich mal so dichten können wie Sylvia Plath und so Kurzgeschichten und Romane schreiben wie Margaret Atwood.

Man soll sich seine Ziele ja hoch stecken.

Gelesen: Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer. Feuer der Freiheit. Geister der Gegenwart.

Ich habe in den letzten Monaten (neben anderem) die drei Bücher von Wolfram Eilenberger gelesen, die sich mit der Philosophie im 20. Jahrhundert befassen. Und ich muss sagen, ich habe das mit viel Vergnügen getan. Zum einen, um mich lange (laaange) nach den Studientagen mal wieder mit komplexeren geisteswissenschaftlichen Theorien zu befassen; besonders bei Band 1 hatte ich das Gefühl, dass es im Hirn ab und zu knirschte, wenn ich versuchte, Heideggers Gedankengänge nachzuvollziehen. (Immer gelungen ist es mir nicht.)

Zum anderen aber auch, weil der Autor sehr kurzweilig, elegant und oft humorvoll die Ideengeschichte mit der Zeitgeschichte, aber auch mit biografischen Details der vorgestellten Denkerinnen und Denker verwebt. Hervorheben möchte ich außerdem, dass in den drei Werken fünf Frauen und sieben Männer vorgestellt wurden – für ideengeschichtliche Werke, in denen Männer oft völlig dominieren, eine ganz gute Quote.

Der erste Band, Zeit der Zauberer, beschäftigt sich mit der Philosophie zwischen 1919 und 1929. Die vier Philosophen, die Eilenberger vorstellt, sind Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Martin Heidegger – sehr verschiedene Arten von Denkern zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem sich anbahnenden Nazi-Terror. Gegenüber dem war ja bekanntlich Heidegger offen und hatte sich auch nach 1945 nicht distanziert. Seine im Buch vorgestellten Ideen empfand ich als am unzugänglichsten, obwohl ich mich ja ehemals im Studium mal durch Husserls phänomenologische Gedanken gewühlt habe und so etwas hätte präpariert sein können.

Wittgenstein stammte wiederum aus reichem Haus und versuchte, durch das Ausschlagen des Erbes und eine Arbeit als Dorfschullehrer dem „wahren Leben“ näher zu kommen – was aber nicht so recht gelingen wollte.

Ernst Cassirer, ein klassischer Universalgelehrter mit würdigem weißen Haarschopf, und der umtriebige Walter Benjamin waren wiederum Juden. Während sich Benjamin mit der Moderne in den „Roaring Twenties“ beschäftigte und ständig pleite war und oft verliebt, arbeitete Cassirer fleißig unter anderem Grundlagen zu verschiedenen symbolischen Formsystemen heraus.

Das Buch mündet in einer philosophischen Konfrontation 1929 in Davos zwischen Heidegger und Cassirer.

Der zweite Teil, Feuer der Freiheit, war für mich mit Abstand der interessanteste. Mag sein, dass es auch daran lag, dass die vier vorgestellten Persönlichkeiten Frauen waren: Simone de Beauvoir, Simone Weil, Ayn Rand und Hannah Arendt. Mit Simone de Beauvoir und Hannah Arendt hatte ich mich vorher schon intensiver beschäftigt. Und, das mag etwas sexistisch sein, aber nach manchen männlichen Hirnverkrampfungen bei Wittgenstein oder Heidegger hatte ich das Gefühl, jetzt wieder zu verstehen, was diese Frauen dachten und schrieben.

Dargestellt wird die Zeit von 1933 bis 1943, also die Zeit des Nazi-Terrors und des Zweiten Weltkriegs. Die zentrale Frage, die alle vier Denkerinnen einte, war das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft.

Das Vorgehen der Denkerinnen, die bis auf Simone de Beauvoir Jüdinnen waren, war sehr verschieden.

Simone de Beauvoir fand in jener Zeit an der Seite Jean-Paul Sartres zu ihrer eigenen Stimme, die sie zu so viel mehr machte als „die Gefährtin von“, und mit der sie später auch die Rolle der Frau in Das andere Geschlecht analysierte. Ich finde es an Beauvoir immer wieder spannend, wie unkonventionell doch der Lebensstil des intellektuellen Paares war – ein polyamores Beziehungsgeflecht eingeschlossen. Aber auch, wie blind beide lange gegenüber den stalinistischen Gräueln blieben.

Hannah Arendt war wiederum eine hochbegabte junge Frau, die sich schon in jungen Jahren auf eigene philosophische Beine stellte. Sie, die als Studentin eine Affäre mit ihrem Lehrer Heidegger hatte (ausgerechnet!), konnte den Nazis entkommen. Sie war eine selbstbewusste Stimme in der Nachkriegszeit, die Finger in Wunden legte und sich bei vielen unbeliebt machte – vor allem mit ihren Veröffentlichungen zum Prozess um Eichmann. Auch später legte sie sich immer wieder mit diversen anderen Denkern an, nicht zuletzt jenen der Frankfurter Schule. Mir gefiel auch sehr gut, dass sie – allen schweren Lebensereignissen zum Trotz – als so lebensfroh und beherzt geschildert wurde.

Simone Weil war mir davor nur als eine Art religiöse Mystikerin bekannt gewesen. Ihre klarsichtigen Analysen der politischen Situation schon vor dem Machtantritt der Nazis fand ich beeindruckend, und auch ihre Gedanken zu Sozialismus, Kommunismus und einer wahren Befreiung der Fabrikarbeiter waren interessant. Später überwog dann – leider – schon eine Art pathologisches Denken, in dem sie während Anorexie und religiöser Verzückung begann, in meinen Augen eher abseitige oder nur religiös zugängliche Texte zu verfassen.

(Interessant dazu im Vergleich übrigens das Buch Rebellinnen von Simone Frieling, in dem neben Weil auch Hannah Arendt und Rosa Luxemburg vorgestellt werden. Weil wird dort als recht weltfremd, egozentrisch und relativ unsympathisch beschrieben, während Eilenberger sie wohlwollend schildert.)

Ayn Rand, eigentlich Alisa Rozenbaum, sagte mir wiederum bis dahin gar nichts. Dabei ist sie eine der Vordenkerinnen der heutigen US-Libertären. Sie wendete sich gegen jede Form der Kollektivierung und gegen alles, was das Individuum einschränkt. Ihre Ideen verpackte sie in Romane, die sich in den USA extrem gut verkauften – bis heute. Hier fand ich es spannend, dass ich manches an ihrem Denken interessant fand, anderes dagegen verstörend; kein Wunder, wenn Nietzsche ihr philosophisches Vorbild war. Mal sehen, mit ihr werde ich mich sicher noch mal beschäftigen.

Besonders spannend in dem Buch war auch, wie die vier Frauen zur gleichen Zeit ähnliche Themen aufgriffen und sich auch ineinander spiegelten.

Für mich persönlich war das Buch in unseren Zeiten politischer Krisen und Herausforderungen sehr passend und, ja, tröstlich! Denn es macht noch einmal sehr deutlich, worauf es wirklich ankommt – nicht auf Luxus und Bequemlichkeit, sondern auf Mut, Liebe, Freundschaft, Freiheit und das eigene Denken, Schreiben, Schaffen. Und dabei sollte man nicht vergessen, dass es selbst in dunklen Zeiten Lust, Witz, Freude und unverhofftes Glück gibt.

Gerade habe ich nun den dritten Band beendet, Geister der Gegenwart. Hier geht es um die Nachkriegsphilosophie mit Theodor W. Adorno, Susan Sontag, Michel Foucault und Paul K. Feyerabend. Vielleicht, weil der behandelte Zeitraum von 1948 bis in die 1980er etwas weiter gefasst wird, vielleicht auch, weil ich das Buch in kleineren Happen zu mir genommen habe, hat es mich nicht ganz so mitgerissen wie die beiden davor. Meine Vorkenntnisse hier waren auch eher bescheiden: Mit Adorno hatte ich mich vor allem mit dessen frühen Werken rund um den autoritären Charakter beschäftigt, mit den anderen bisher kaum. Ich denke, zu Feyerabend, dem großen Kritiker der Wissenschaftstheorie, und auch Foucault werde ich noch ein bisschen mehr lesen müssen.

Als Persönlichkeit empfand ich Susan Sontag als besonders spannend – sie schrieb vor allem Essays, war aber auch Filmemacherin und Romanautorin. Sicher eine interessante Person! Übrigens entstammte auch sie wie viele andere intellektuelle Menschen einem säkularisierten jüdischen Elternhaus.

Ausführlich wird in dem Buch auch die Zeit der Studentenbewegung behandelt, deren Schattenseiten dabei deutlich werden – z.B. relativ sinnloses Vor-sich-hin-Rebellieren, indem man Universitätsgebäude besetzt. Dass diese Zeit wertvolle Impulse gesetzt hat, um das dumpfe Nachkriegsdeutschland in ein moderneres zu befördern, geht vielleicht etwas im Buch verloren; dass die ideologischen Grundlagen vieler Revoluzzer von damals erbärmlich waren, glaube ich dagegen gerne.

Zusammengefasst – eine Trilogie, die Lust auf Denken macht und zu weiterführender Lektüre anregt, ganz nach dem Motto: Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.

Zurück in die Zukunft

Ich reagiere auf die für mich immer größer werdenden Zumutungen der digitalen Welt – Hab ein Smartphone, sei ununterbrochen online! Lass dich in Social Media mit oberflächlichen Kurzmeldungen in den Wahnsinn treiben! – zunehmend mit Reaktanz. Und so habe ich in letzter Zeit wieder mehr Lust auf intelligente Bücher. Da ich mir nicht alle kaufen kann und ich sie auch nicht immer zufällig in meinem öffentlichen Bücherregal oder in den dörflichen KÖBs finde, bin ich mal wieder in die nächste Kleinstadt, nach Weinheim, gefahren und habe nach vielen Jahren meinen Ausweis in der Stadtbibliothek erneuern lassen. Konkreter Anlass war, dass ich unbedingt den dritten Band der Philosophiegeschichte des 20. Jhds von Wolfgang Eilenberger lesen wollte – der aber nur als teures Hardcover verfügbar ist und so weiter.

Mit der Weinheimer Stadtbibliothek verbinde ich viele Erinnerungen. Ich besuche sie seit meinem 15. oder 16. Lebensjahr; damals hatte ich dort auch ein Schulpraktikum gemacht („was mit Büchern“).

Ab 1999 lebten wir einige Jahre in der Kleinstadt, und auch in dieser Zeit ging ich oft dorthin – zum Lesen oder um an meiner Dissertation zu arbeiten. Nachdem ich 2010 einen Heimatkrimi veröffentlicht hatte, hielt ich dort sogar mal eine kleine (und wenig besuchte) Lesung.

Eine sehr nette Bibliothekarin meldete mich erneut an, und meine Karte mit der niedrigen Nummer durfte ich behalten. Sie erklärte mir, dass sich die Romane jetzt im ersten Stock befinden. Eine Kollegin erkannte mich noch und grüßte freundlich. Die Jahresgebühr beträgt 17 Euro – dafür kann man aber auch elektronische Medien ausleihen, darunter viele Zeitschriften. Ich habe zum Lesen zwar lieber Papier in der Hand, aber eine Zeitschrift schaue ich mir durchaus mal auf dem Bildschirm an.

Auch wenn etwas umgeräumt wurde – der Anblick ist mir doch gleich vertraut: die Bilder in den Treppenhäusern, die Möbel. Für mich strahlt das Ruhe aus, in der Gegenwart von Büchern fühle ich mich eh wohl. Ich werde wieder häufiger herkommen.

Gelesen: Ijoma Mangold, „Das Deutsche Krokodil. Meine Geschichte“ (2017)

Wer weiß, vielleicht bin ich dem Autor dieses Buches schon mal irgendwo in den Altstadtgassen Heidelbergs begegnet. Denn er ist nur zwei Jahre älter als ich und verbrachte Kindheit und Jugend in Dossenheim, besuchte dann ein Gymnasium in Heidelberg – und dort war ich als jugendliche Nachtschwärmerin und später als Studentin natürlich auch unterwegs.

In seinen Lebenserinnerungen geht es zum einen um seine Herkunft. Sein Vater stammte aus Nigeria, kehrte auch früh dorthin zurück, sodass Mangold bei seiner Mutter aufwuchs, einer Kinder- und Jugendtherapeutin. Er erlebte seine frühen Jahre in einer zwar nicht allzu wohlhabenden, aber bildungsbürgerlichen und toleranten Umgebung. Mit seiner Hautfarbe in negativer Weise massiv konfrontiert worden sei er so auch erst 2014, als er in seiner Rolle als Literaturkritiker ein Buch von Akif Pirinçci verriss und daraufhin von dessen Fans rassistisch beleidigt wurde.

So ist das Thema Hautfarbe und Fremdsein auch die meiste Zeit eher untergründig in dem Buch; als Außenseiter fühlte sich Mangold als Junge eher, weil er Thomas Mann las und Klassik hörte, nicht wegen der dunkleren Haut.

Es geht im Buch viel um typische Kinder- und Jugenderinnerungen aus den 70ern bis 90ern, aber auch um die Suche nach (und das Fremdeln mit) der afrikanischen Verwandtschaft als junger Mann. Schön beschrieben fand ich den Umstand, wie wir Vergangenes erinnern – dass gerade die typischen Anekdoten so oft erinnert und erzählt wurden, dass die wahre Geschichte dahinter verblasst und schwer greifbar wird.

Ich habe das Buch mit Vergnügen gelesen. Was es mit dem „deutschen Krokodil“ auf sich hat, findet man als Leser übrigens auch heraus.

Leseratte

Ich bin eine Leseratte – schon immer. Lesen zu lernen war mein erklärtes Hauptziel bei Schulbeginn, und schon bald habe ich mich lesend durch die Schulbücherei gefräst, später durch die des Gymnasiums und dann durch die Stadtbibliothek des nächsten Städtchens. Und ich lese immer noch durchschnittlich ein Buch in der Woche – mal mehr, wenn ich krank bin, Urlaub habe oder im Sommer, weil ich dann lieber abends draußen sitze als vor dem Fernseher, weniger im dunklen Winter, weil es dann meine sowieso schwachen Augen ziemlich anstrengt.
Ich lese ziemlich querbeet, was mir unter die Augen kommt. Da mein Mann und ich ein öffentliches Bücherregal betreuen, stoße ich oft zufällig auf Autor:innen. Gefällt mir jemand, bestelle ich mir – meist antiquarisch – gleich noch ein paar weitere Bücher von ihm oder ihr. Ich mag Romane, Biografien und Sachbücher, vor allem zu psychologischen, historischen und sozialwissenschaftlichen Themen. Krimis und Thriller lese ich seltener. Früher mochte ich Sci-Fi und Fantasy sehr, inzwischen nicht mehr so – wobei unsere Terry-Pratchett-Sammlung mir immer wieder gute Dienste leistet, wenn ich kränkelnd im Bett liege.
Meine Lieblingsautorin ist Margaret Atwood – schon seit meiner Jugend. Besonders liebe ich ihr Buch Katzenauge. Außerdem habe ich die meisten Romane von Murakami gelesen. Ansonsten ist mein Geschmack sehr weit gestreut.
In letzter Zeit habe ich Appetit auf Psychologie und Philosophie. Ich lese oft Bücher über die Acceptance-Commitment-Therapie, aus denen ich schon viel für mich mitnehmen konnte. Gerade bin ich – nach Zeit der Zauberer – bei Feuer der Freiheit von Wolfram Eilenberger. Es handelt sich dabei um Bücher über prägende Philosoph:innen einer Epoche des 20. Jahrhunderts. Im ersten Band ging es um Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Martin Heidegger in den 1920er Jahren, im zweiten um Simone de Beauvoir, Simone Weil, Ayn Rand und Hannah Arendt von 1933 bis 1943.

Manchmal stehe ich vor unseren Bücherregalen, wie es vielleicht Weinliebhaber vor ihren flüssigen Schätzen tun, und denke: Immerhin ein Vorrat, falls die Zivilisation doch noch zusammenbricht.
(Ein Freund meinte mal: „Wenn die Zivilisation zusammenbricht, hast du andere Sorgen als Lesen.“ Ich weiß nicht, ob er recht hat.)

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