Als ich heute eine meiner Runden durch die Wälder nahe meines Wohnorts drehte, sah ich im Schotter eines Feldweges etwas glitzern. Ich hob es auf – es war eine Münze. Erstaunlicherweise aber kein Cent oder Euro, sondern ein isländisches 1-Kronen-Stück. Auf der einen Seite zeigt es einen Dorsch, auf der anderen einen Riesen, „einen der vier Schutzgeister Islands“, sagt mir Wikipedia.
Ich bin neugierig. Island finde ich – von allem, was ich bisher über die Insel sah und las – faszinierend, denke aber nicht, dass ich das Land mal leibhaftig besuchen werde. Mein Mann und ich vermeiden Flugreisen, und davon abgesehen mag es der beste Ehemann von allen klimatisch eher mediterran und weniger – na ja, isländisch.
Ich fragte mich: Was für ein Riese ist denn da zu sehen?
Anderswo im Netz lese ich, dass auf den höherwertigen Kronenstücken neben dem Riesen auch ein Stier, ein Drache und ein Raubvogel zu sehen sind. Diese spielen wiederum eine wichtige Rolle in der Sagensammlung Heimskringla und sind auch Teil des isländischen Wappens.
In der germanischen Mythologie sind Riesen nicht immer die Sympathieträger – zumindest nicht die männlichen Riesen. Die Riesinnen sollen ja schön anzuschauen sein und werden von den Götters auch gerne mal geheiratet.
Ich persönlich denke, dass die Riesen und Riesinnen symbolisch nicht nur für Naturkräfte stehen, sondern auch für die unbewussten Antriebe, die uns beherrschen und dominieren – mit denen wir aber in Freundschaft und Weisheit auch weit kommen können. Wer sich mit Runen auskennt: Thurisaz verkörpert im Futhark die „Riesenkräfte“; das und die Ähnlichkeit in Namen und Aussehen mit einem Dorn legen schmerzhafte, aber auch schützende Bedeutungen nahe.
Da seht ihr es – da schlurfte ich müde (habe immer noch Husten von der letzten Erkältung und dementsprechend schlecht geschlafen, doof geträumt habe ich auch noch) durch den Wald, und kurz danach finde ich mich plötzlich in einer Welt voller Riesen, Runen und Dornen wieder.
Wie der isländische Schutzriese heißt, habe ich aber nicht herausgefunden, oder wie er sich in den Odenwälder Feldwegschotter verirrt hat.
Gerade beschäftige ich mich (mal wieder) ein bisschen mit dem Thema Religion und Konfession hier im vorderen Odenwald. Ich bin Geopark-vor-Ort-Begleiterin, das heißt, dass ich sporadisch kleine Führungen hier unter anderem zur Ortsgeschichte anbiete. In ein paar Wochen bin ich für einen Vortrag zur Geschichte meines Heimatortes gebucht worden und überlege gerade, wie ich ihn konzipiere. Auftraggeber ist eine Kirchengemeinde, ein Schwerpunkt (auch) auf Religion ist erwünscht – aber das ergibt sich hier von alleine.
Denn jeder, der mein Tal besser kennt, weiß auch, dass sich hier die Ortschaften in ihrer Hauptkonfession abwechseln – oder besser: abgewechselt haben. Birkenau war vorrangig evangelisch, Mörlenbach war sehr katholisch – hier wurde die erste evangelische Kirche erst 1950 errichtet, und erst zu jener Zeit gab es das erste Mal seit 300 Jahren einen evangelischen Pfarrer im Ort.
Evangelische Kirche Mörlenbach mit Gemeindehaus.
Rimbach dagegen war (und ist) stark durch die evangelische Kirche geprägt; hier befanden sich die Katholiken in der Diaspora. Das Gymnasium, das auch ich besuchte, war nach dem Krieg eine evangelische Einrichtung und ist nach Martin Luther benannt. Als ich dort hinging, war es aber schon eine normale staatliche Schule. In Rimbach lebten vor allem im 19. Jahrhundert auch viele Juden.
Fürth, am Ende des Weschnitztals, ist wiederum sehr katholisch. Bis heute sind dort der KFB und die KJG sehr wichtig.
Diese Religionswechsel alle fünf Kilometer gehen auf die früheren Herrschaftsgebiete zurück. Einst hatte das gesamte Gebiet hier und auch weitere Flächen, die heute zum Kreis Bergstraße gehören, dem Kloster Lorsch gehört, das es auch über die ersten schon vorhandenen fränkischen Dörfchen hinaus gezielt besiedelt hatte. Als aber das Kloster unterging und das Gebiet im 13. Jahrhundert vom Bistum Mainz übernommen wurde, hatten sich innerhalb des Besitzes des Klosters Lorsch bereits kleine Herrschaftsgebiete etabliert. Diese Herrscher hatten natürlich wenig Interesse daran, ihre Pfründe den neuen Herren zurückzugeben, und so entstand ein Flickenteppich aus Herrschaftsgebieten: kurmainzisch, kurpfälzisch, die drei Erbacher Herren sowie kleinere Gebiete wie das der Wamboldts von Birkenau. Und nach dem Motto „Cuius regio, eius religio“ – Wessen das Land, dessen die Religion – bestimmten die Herren auch später die Konfession ihrer Untertanen.
Zunächst aber wurde während der Reformationszeit alles protestantisch, wobei es ja damals noch Unterschiede gab, ob es Reformierte, Lutheraner oder Calvinisten waren, die jeweils herrschten. Grund für diese ab 1462 fast 200-jährige religiöse Einheit in dem Gebiet hier war die Mainzer Stiftsfehde, die …
Karte der Region um Heidelberg von 1528; nicht irritieren lassen – Süden ist hier oben.
Aber genug. Ihr seht schon, die Heimat- und Lokalgeschichte hier ist dicht und komplex. Ich glaube, ich fange beim Vortrag mit den ersten Dingen an, die man über Menschen und ihre Religion hier aussagen kann: die Hügelgräber zwischen Mörlenbach und Heppenheim. Dort haben Menschen in der Zeit der Schnurkeramiker ihre Toten bestattet und ihnen unter anderem die typischen Becher mitgegeben …
Archivbild: Ein Hügelgrab auf der Juhöhe. Viel zu sehen gibt es da nicht, aber einige Infotafeln klären dort über die Denkmäler auf.
Ich hätte mir mit 20 oder 30 sicher nicht gedacht, dass ich mich mal mit Heimatkunde beschäftige. Für das Sachgebiet bin ich ja mit knapp über 50 noch fast ein Baby. Die Einstiegsdroge waren vor rund 25 Jahren Sagen und Mythen der Region. Irgendwann fragte ich mich natürlich, was die realen Hintergründe waren – von (angeblichen) Kult- und Opferplätzen, wilden Leuten und Soldaten, die sich wegen einer Maus totschlugen.
„Und was bringt mir das?“ – worauf ja manche Zeitgenossen all ihr Tun herunterbrechen? Jetzt mal abseits der Freude an Wissen und verstehen und des Wirkens in einer netten Gruppe von Gleichgesinnten, die sich ebenfalls mit Heimatgeschichte, aber auch Geologie und Botanik beschäftigen: Ich verstehe vieles vor Ort besser – wie die eben angesprochene, wenn auch inzwischen natürlich abgeschwächte, ungleich verteilte Konfessionsstruktur.
Wichtig ist mir aber auch, über den tagesaktuellen Tellerrand mit all seinen Zumutungen hinauszuschauen und mir bewusst zu machen, wie gut, reich und sicher wir hier leben. Wenn ich lese, dass im Dreißigjährigen Krieg kaum ein Mensch hier die durchziehenden Söldnerhorden, Seuchen und den Hunger überlebte; wenn ich mir klarmache, wie viel fast mittelalterliche Mühsal ein Bauernleben noch um 1900 mit sich brachte – dann bin ich ganz froh, heute zu leben.