Das einzige Bild vom 1. Mai 1990 zeigt, anders als ich es erinnerte, einen Hackenporsche, den wir offenbar auch dabei hatten, und nicht den berühmten Bollerwagen.

Immer um diese Zeit im Jahr erfasst mich eine große Welle der Nostalgie, und ich erinnere mich zurück an die vielen Male, in denen ich als Teenagerin oder Studentin mit Freunden losgezogen bin, um in den Mai zu wandern. Später haben wir gezeltet, in den Mai gefeiert, gezaubert, Lagerfeuer gemacht, gelacht, Bierfässer geleert und bis zum Morgengrauen geredet…

Und dann, noch ein paar Jahre später, das Rockkonzert im Dorf: die alten und jungen Cowfreaks, Metaller, die aussahen, als seien sie direkt aus dem Jahr 1985 in die 2010er gebeamt worden…

Und irgendwann waren wir alle erwachsen – oh je, sogar alt. Keiner wandert, keiner zeltet mehr. Das Rockkonzert ist brav geworden, familien- und honoratiorentauglich, aber laut. Das macht mit keinen rechten Spaß mehr.

Gestern habe ich einen der rumpeligen Kellerräume im Elternhaus ein bisschen aufgeräumt und den Bollerwagen wiederentdeckt, den wir beim „ersten 1. Mai“ dabei hatten. Das war 1990. Ich war 16 und gehörte zu einer kleinen Clique, die sich regelmäßig bei mir im Partykeller traf. (Meine Eltern waren weise. Sie hatten das Projekt Partykeller gefördert, als sie merkten, dass ich in meine Sturm-und-Drang-Phase kam. So, dachten sie zu Recht, würde ich mich öfter zuhause mit Freunden treffen, statt irgendwo herumzuhängen.)

Damals war ich fest überzeugt, im öden Odenwald jämmerlich zu versauern (Antonia Baum, I feel you! Jeder Odenwälder hier kennt ihre FAZ-Glosse „Dieses Stück Germany“ über die „Odenwaldhölle“, die meisten haben sich darüber erregt. Ich konnte ihren Text ganz gut nachvollziehen). Meine Clique bestand aus Leuten, denen es ähnlich ging wie mir – Punker und Metaller und Waver (oder was wir dafür hielten), Schwule, manche waren ein bisschen verrückt oder das, was man heute Nerds nennen würde. Viele Jahre später wurde mir klar, dass wir mehr erlebt haben als manche Großstadtkids – „wir hatten ja nix“, also mussten wir selbst für Abwechslung sorgen, und waren dabei ziemlich kreativ.

Zurück zum ersten 1. Mai. Wir – ich müsste durchzählen, es waren wohl so sechs Leute, vielleicht mehr – hatten beschlossen, in den Mai zu wandern. Wessen Idee es war? Wahrscheinlich die von C., der hatte oft gute Einfälle.

Wir packten den Bollerwagen mit Getränken, vielleicht auch etwas zum Knabbern. Eine Laterne war auch dabei. Dann zogen wir los, in den nächsten Ortsteil, zu einer Feier am Sportplatz. Viel erinnere ich davon nicht mehr. Wir zogen weiter, wollten zu einem kleinen See. Zwei ältere Hippies saßen dort und kifften. „Passt auf, der Tiger ist im Wald!“, sagten sie zu uns. Das wurde ein geflügelter Spruch bei uns. (Erst vor ein paar Jahren hörte ich, dass damals tatsächlich irgendwo im Odenwald eine Raubkatze ausgebrochen sein soll.)

Dass sahen wir ein Lagerfeuer am See. Wir zögerten zunächst – wir fürchteten, es könnten schlagkräftige Mitglieder einer berüchtigten Familie aus dem Nachbarort sein. Zwei von uns machten sich auf den Heimweg, der Rest blieb. Vorsichtshalber bildeten wir Alibi-Pärchen, damit die Mädchen unter uns nicht von fremden Männern dort angegraben wurden. Zu meiner Freude bekam ich C. ab – ich hatte mich mächtig in ihn verguckt, aber aus uns wurde nie ein echtes Paar.

Der Rest des Abends fällt unter „zum Glück gab es 1990 noch kein Social Media“ – wir tranken zu viel, irgendwann kam meine Mutter mitten in der Nacht mit dem Auto angefahren, aufgeschreckt durch die früher heimgekehrten Freunde, die behauptet hatten, wir seien in Gefahr. Das waren wir zwar nicht, aber das Taxi nach Hause war trotzdem willkommen.

Das klingt alles nicht sonderlich wild – aber ich erinnere mich genau an das Gefühl von Freiheit, von Aufbruch, von Abenteuer.

Am 3. Mai 1990 schrieb ich folgendes Gedicht:

Sommertraum

Im Innern eines Kreisels,
Beschwingt wie von Wein,
Reines, pures Leben,
Pulsierend in meinen Adern,

Sonnenschein verfängt sich im Haar,
Mein Salamanderkörper
Heizt sich auf am Tag,
Um zu glühen in der Sommernacht.

Mein ganzes Sein ein Schrei,
Fasziniert und glücklich,
Mein ganzes Tun ein Tanz,
So schnell wie ein Vogel –

Und so frei. Wann ist es vorbei ?
Ich will nie wieder, Wie ein Hamster,
In den Winterschlaf fallen,
Nie soll der Sommer zu Ende gehen.

Ich liebe so leicht,
Ich habe so lange gefroren …
Doch ich will nicht denken.
Singt ein Lied, Freunde,

Lasst uns noch ein bisschen
Von unseren Träumen reden.

***

Was immer ihr heute Abend macht – kommt gut in den Mai! Wir werden ein bisschen mit einer Freundin in den Wald gehen, zumindest ist das der Plan.